Zehn Jahre «Alarmphone»: Die Ambulanz für Flüchtende
Ein zivil organisierter Notruf für das ganze Mittelmeer: Seit einem Jahrzehnt stemmen mehrere Hundert Aktivist:innen in Dutzenden Ländern ein Projekt, für das es keine Notwendigkeit geben dürfte.
Am Anfang des «Alarmphone» steht ein Datum. Am 11. Oktober 2013 gerät ein Kahn voller Geflüchteter südlich von Lampedusa in Seenot, als er von einem libyschen Schnellboot beschossen wird. Immer wieder setzen die Passagier:innen verzweifelte Notrufe an die italienische und die maltesische Küstenwache ab – statt Hilfe zu leisten, schieben sich die beiden Stellen die Zuständigkeiten hin und her. Als nach mehreren Stunden doch noch ein Rettungsschiff am Unfallort eintrifft, sind schon mehrere Hundert Flüchtende ertrunken. Es ist das zweite grosse Unglück vor Lampedusa innert weniger Tage.
Allein in jenen ersten Oktoberwochen sterben über 500 Menschen auf ihrem Weg nach Europa. Der Aufschrei ist gross damals. Von einer Zeitenwende ist die Rede, von der Notwendigkeit einer anderen, humaneren Flüchtlingspolitik. «Europa kann nicht akzeptieren, dass viele Tausend Menschen an seinen Grenzen umkommen», sagt José Manuel Barroso, der damalige Kommissionspräsident der EU. In italienischen Städten wird bei Gedenkfeiern der Toten erinnert. Eine Woche nach dem Unglück vor Lampedusa nimmt in Rom die Marineoperation «Mare Nostrum» ihre Arbeit auf. Und im deutschen Hanau hecken Asylaktivist:innen einen wegweisenden Plan aus.
Die solidarische Internationale
Am Anfang steht auch ein Bedürfnis. «Wir wollten etwas machen, das über das Zusehen, Zählen und Betrauern hinausgeht», sagt Marion Bayer, die damals in Hanau dabei ist. Als wir Bayer per Telefon erreichen, befindet sich die 45-Jährige gerade beim Netzwerktreffen in Dakar, der Hauptstadt des Senegal, wo auch das südlichste Alarmphone-Team stationiert ist. «Nach dem Unglück vom 11. Oktober wurde uns klar, dass wir intervenieren müssen», erinnert sie sich. «Wir fragten uns: Was wäre gewesen, wenn es eine zivile Nummer gegeben hätte, die man einfach anrufen kann, wenn man in Seenot ist?» Es ist der Moment, als die Idee für eine kollektiv betriebene Rund-um-die-Uhr-Meldestelle für Flüchtende konkret wird: das Alarmphone.
Gänzlich neu sei die Idee nicht gewesen, sagt Bayer, denn schon damals hätten Aktivist:innen Anrufe von Flüchtenden auf hoher See entgegengenommen. Bayer und ihre Mitstreiter:innen bitten einen von ihnen um Rat: den eritreischen Priester Mussie Zerai, der damals in der Schweiz lebt. «In der eritreischen Community von Hanau kannten alle seinen Namen», sagt sie. Überall gibt es jemanden, der seine Nummer gespeichert hat, sogar an den Wänden der libyschen Internierungslager steht sie geschrieben, wie später ein Journalist herausfindet. Als die Aktivist:innen Zerai fragen, was er von ihrem Plan hält, antwortet dieser: «Fangt besser heute als morgen damit an!»
«Ich habe damals ständig Anrufe erhalten, auch in der Nacht», erinnert sich Mussie Zerai im Videocall aus dem kanadischen Montreal. Bald nimmt die Arbeit praktisch seine ganze Zeit in Anspruch. Das habe sich «so entwickelt», seit er 2003 damit begonnen habe, die ersten Notrufe entgegenzunehmen und die Koordinaten der Boote an die Küstenwachen weiterzuleiten. «Irgendwann war meine Verantwortung so gross, dass ich sie nicht mehr abgeben konnte», so Zerai. «Fliegen? – Unmöglich, weil ich im Flugzeug nicht erreichbar gewesen wäre.» Später geht er dazu über, seine Meldungen an die Küstenwache zusätzlich per E-Mail zu übermitteln. Deshalb kann er grob schätzen, wie vielen Menschen er über die Jahre geholfen hat: 150 000.
Die Arbeit, die Mussie Zerai allein geschultert hat, kollektivieren: Nicht zuletzt darum geht es den Aktivist:innen. Ein Jahr nach dem Unglück auf Lampedusa nimmt die «Ambulanz für Flüchtende», wie der Priester das Alarmphone nennt, am 11. Oktober 2014 ihren Betrieb auf. Kurz darauf wird «Mare Nostrum» bereits wieder die Finanzierung gestrichen. Erst kommen die Anrufe über Mussie Zerai herein, mit der Zeit zieht er sich immer mehr zurück, bis er 2018 ganz aufhört. Wer in Seenot gerät, wählt seither die immer gleiche Nummer: +33 486 517 161.
Heute ist das Alarmphone mit seinen rund 300 Aktivist:innen eines der wichtigsten transnationalen Netzwerke gegen das europäische Grenzregime. Und so wie dieses Regime seine Aussengrenzen immer weiter nach Süden externalisiert hat, haben sich auch die Aktivist:innen von Nordeuropa bis zum Senegal zusammengeschlossen. Es ist eine neue, eine praktisch-solidarische Internationale. Hätten sie im ersten Jahr der Operation noch knapp 100 Notrufe erhalten, seien es 2023 mehr als 1200 gewesen, schreibt das Alarmphone in einem Jubiläumsband, der dieser Tage erscheint.
Arbeit mit Whistleblower:innen
Tunis, Palermo, Marseille, London, Wien oder Berlin: Überall nehmen Aktivist:innen Notrufe entgegen und leiten diese an die entsprechenden Stellen weiter. Einer der wichtigen Alarmphone-Standorte ist Zürich. Hier arbeitet Reto Plattner seit mehr als neun Jahren am Projekt mit. Dass Zürich rasch so zentral geworden sei, habe auch mit der Geschichte aktivistischer Strukturen in der Stadt zu tun, erzählt Plattner im Videocall – vom Bleiberecht-Café, den Besuchsgruppen für Menschen in Gefängnissen und unterirdischen Asylunterkünften bis zur Autonomen Schule. «Als ich mich fürs Alarmphone entschied, wusste ich, das wird mein Hauptbetätigungsfeld», erinnert sich Plattner, der in einem selbstverwalteten Getränkehandel arbeitet.
Den Ablauf einer Alarmphone-Schicht beschreibt der 51-Jährige so: Jeder Tag werde unter den Aktivist:innen in Einheiten von sechs bis acht Stunden aufgeteilt. Mindestens zwei Personen seien in dieser Zeit jeweils für das Telefon verantwortlich und würden Anrufe entgegennehmen. «Wir versuchen herauszufinden, wo sich die Leute befinden, die zuständigen Behörden ausfindig zu machen und Hilfe zu organisieren.» Daneben gebe es noch die sogenannte Follow-up-Arbeit: Auskunft über den Verbleib von Angehörigen.
«Wir sind einer der wenigen Akteure, die den reisenden Menschen und ihren Familien glaubwürdig vermitteln können, dass wir auf ihrer Seite sind», sagt Plattner. Was das Alarmphone für ihn ausmache? «Dass wir seit zehn Jahren versuchen, eine Brücke zwischen zwei Kontinenten zu schlagen, die Verhältnisse zwischen Europa und Afrika gleichwertig zu machen. Wir sind parteiisch: keine NGO, sondern wir führen einen gemeinsamen politischen Kampf.»
Einige Tausend Kilometer weiter südlich, in Mauretanien, sitzt Moctar Dan-Yayé vor dem Bildschirm. Gerade befindet sich der Aktivist aus dem Niger auf der Durchreise nach Dakar zum Netzwerktreffen. Der Kampf für Bewegungsfreiheit sei für ihn und seine Mitstreiter:innen vergleichsweise neu, erzählt Dan-Yayé. Angefangen hat er 2015 – nach Europas «Sommer der Migration», auf den ein bis dahin unvorstellbarer politischer Backlash folgte. Die EU schloss damals ein Abkommen mit dem Niger ab: Fortan flossen hohe Geldbeträge aus Brüssel in den Sahelstaat, der im Gegenzug ein «Antischleuser»-Gesetz erliess, um die Migration durch die Wüste in Richtung Europa zu unterbinden. «Diese Migration war immer ein ganz normaler Teil unseres Lebens – bis die EU einschritt», sagt der Aktivist. Willkürliche Verhaftungen seien die Folge gewesen. «Uns wurde klar, dass wir etwas tun müssen.»
Wie viele andere Aktivist:innen des Alarmphone organisierte sich auch Moctar Dan-Yayé zunächst im aktivistischen Netzwerk Afrique-Europe-Interact. 2017 fand ein erster Workshop mit Aktivist:innen verschiedener Organisationen zur Gründung einer Notrufhotline für Flüchtende in der Wüste statt; kurz darauf wurde das Schwesterprojekt «Alarmphone Sahara» gegründet.
Geraten Flüchtende in der Sahara in Not, stellen sich andere Fragen als auf hoher See: Dort gibt es weder Küstenwachen noch zivile Seenotrettungsschiffe. Stattdessen arbeiten die Aktivist:innen mit «Whistleblower:innen» zusammen – Zivilist:innen, die in den Dörfern und Städten innerhalb oder am Rand der Wüste leben – und helfen können, wenn das Wasser ausgeht oder das Auto eine Panne hat.
Zuletzt habe sich die Situation verändert, berichtet Dan-Yayé. Im Juli 2023 putschten sich im Niger Militärs an die Macht, Ende Jahr hätten die neuen Machthaber dann den Deal mit der EU aufgekündigt, «seither wurde die Migration durch die Wüste wieder einfacher». Dafür würden viel mehr bis in den Maghreb gelangte Flüchtende von dort in die Wüste zurückgedrängt. Im Gegenzug für die Grenzabwehr erhalten Tunesien, Ägypten und Marokko Geld aus der EU.
Keine Blackbox mehr
«Viele Entwicklungen haben wir so nicht vorhergesehen: Migrationsbewegungen haben eine hohe Dynamik», sagt Marion Bayer. Bei der Gründung des Alarmphone hätten sie noch den Hauptfokus aufs «zentrale Mittelmeer» gelegt; nur ein Jahr später reisten Zehntausende Flüchtende über die Ägäis und den Balkan. Heute gehört etwa auch die westliche Route auf die Kanaren zu den Schwerpunkten des Kollektivs.
Was sich über die Jahre auch verändert habe, sei die Reaktion der Offiziellen. «Wir alle kennen die Warteschlaufenmusik der maltesischen Küstenwache», sagt Bayer. Heute würden diverse Stellen gar nicht mehr ans Telefon gehen. Dafür sei 2015, im «Sommer der Migration», ein grosses Seenotrettungsnetz entstanden: «unsere zivile Flotte». Heute wüssten die Behörden, dass Aktivist:innen alle Notrufe dokumentierten, dass Flugzeuge und Rettungsschiffe patrouillierten. «Das Mittelmeer ist keine Blackbox mehr», sagt Bayer.
Für möglich gehalten habe das damals kaum jemand. Ohne bezahlte Stelle eine 24/7-Hotline für das ganze Mittelmeer betreiben zu wollen: «Die Leute haben uns anfangs gesagt, wir seien verrückt – und es war ja auch verrückt», sagt Bayer. Jetzt blickt sie auf zehn Jahre zurück, in denen die Notrufnummer nie nicht erreichbar war.
Was sie sich für die Zukunft wünscht? «Dass es uns nicht mehr braucht», sagt die Aktivistin. «Unsere Arbeit wäre gar nicht nötig, wenn man die politische Entscheidung fällen würde, dass Bewegungsfreiheit ein Menschenrecht ist.» Sie würden sich alle wünschen, damit wieder aufhören zu können: «Lieber heute als morgen.»