USA: Die Stunde der Wahrheit

Nr. 16 –

Die Präsidentschaftswahlen in den USA werden immer teurer – und es spielt kaum noch eine Rolle, wer ins Weisse Haus einzieht. Selbst der einstige Hoffnungsträger Barack Obama hat vor allem den Ausbau des Sicherheitsstaats vorangetrieben.

Halali! Die US-Wahlsaison 2016 ist eröffnet. Als Erster meldete der Tea-Party-Liebling Ted Cruz seine Präsidentschaftskandidatur für die Republikanische Partei an. Die Stunde der Wahrheit sei gekommen, verkündete der evangelikale Senator aus Texas. Ausgerechnet er. Im faktenfreien Ted-Cruz-Universum gibt es nämlich keinen Klimawandel. Seine Welt wurde innert sieben Tagen von Gott erschaffen. Der Kampf gegen die allgemeine Krankenversicherung (Obamacare) ist für ihn eine Fortsetzung des antifaschistischen Widerstands gegen die Naziherrschaft. Und die Bundessteuern würde er nach gewonnener Wahl gleich ganz abschaffen, die BeamtInnen der nationalen Steuerbehörde IRS (Internal Revenue Service) sollen allesamt im Grenzschutz gegen Mexiko eingesetzt werden.

Der Unterhaltungswert solcher Hirngespinste nutzt sich rasch ab, wenn weitere extremistische KandidatInnen auf die Wahlbühne drängen. Leute wie Rand Paul, Sohn des zweimal erfolglos kandidierenden Ron Paul aus Texas; er tritt als libertärer Fundamentalist gegen die «Washingtoner Maschine» an, die er doch steuern will. Oder der aus Kuba stammende Secondo Marco Rubio, der die gegenwärtige Annäherung an das kommunistische Reich des Bösen ablehnt.

Zurück zur Feudalherrschaft?

Und auf der andern Seite? Da gibt es vorläufig bloss Hillary Rodham Clinton, die finanz- und sicherheitspolitisch am rechten Rand der Demokratischen Partei politisiert. Wieso eigentlich nur sie? In den letzten Präsidentschaftswahlen profitierte die Demokratische Partei klar von der veränderten Demografie, davon, dass in den USA immer mehr junge Menschen, mehr Frauen, mehr AfroamerikanerInnen und mehr Latinas und Latinos zur Urne gehen. Doch das bisherige demokratische KandidatInnenfeld 2016 ist auffällig weiss und alt. Trotzdem wird das Hauptverkaufsargument der DemokratInnen auch diesmal identitätspolitisch sein: Nach dem ersten Schwarzen soll nun die erste Frau ins höchste Amt der USA gehoben werden. Na und? Weltweit gibt es heute bereits rund zwei Dutzend Regierungschefinnen.

Alles in allem ein trauriger Start zu einem traurigen Spektakel, an dessen Ende das Duell Hillary Clinton gegen Jeb Bush stehen könnte. Wenn eine dieser beiden Figuren 2016 gewinnt und 2020 wiedergewählt wird, wären die USA, die auf ihren Unabhängigkeitskampf gegen die britische Krone so stolz sind, praktisch wieder eine Feudalherrschaft. Dynastie Clinton oder Bush – was für eine Wahl!

Dass das verknöcherte Zweiparteiensystem der USA das politische Spektrum der Bevölkerung nicht angemessen spiegelt, ist unter US-Linken eine Binsenwahrheit. Intellektuelle wie Noam Chomsky sprechen von einem Einparteiensystem mit demokratischem und republikanischem Flügel. Und doch lassen sich die meisten Linken alle vier Jahre überzeugen, dass es wichtig ist, das grössere Übel – einen rechtskonservativen Präsidenten – zu verhindern.

Nach acht Jahren Bush-Regime war Barack Obama 2008 der grosse Hoffnungsträger. Nun ist das Ende seiner Präsidentschaft absehbar. Wunder konnte der charismatische Redner keine vollbringen. Die USA sind mehr denn je in bewaffnete Konflikte verstrickt. Die politische Polarisierung im Land hat womöglich noch zugenommen. Die Umverteilung des Reichtums von unten nach oben geht weiter. Die Befugnisse der Exekutive, die die rechtskonservative Bush-Regierung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 rasch und gründlich ausgebaut hatte, schränkte der demokratische Präsident nicht wieder ein, im Gegenteil. Zu gross war die Versuchung, diese Macht nun selber als Mittel zum eigenen Zweck zu nutzen.

Zwar ist die US-amerikanische Gesellschaft unter Präsident Obama wieder offener geworden. Die grosse Toleranz, die strahlenden Ideale und der unverwüstliche Optimismus der US-AmerikanerInnen sind wieder spürbarer als in den Jahren, in denen die Regierung Bush/Cheney von der «Achse des Bösen» und der «dark side», der dunklen Seite der Welt, geradezu besessen waren. Doch das Bild der grossen Politik seit dem September 2001 bleibt düster.

«Neue amerikanische Ordnung»

In jeder Wahlsaison wird das altbekannte US-Politsystem mit seinen Schwächen und Problemen in der US-Presse, vor allem den linken Medien, ausgiebig kritisiert. Auch die WOZ berichtete in der Vergangenheit regelmässig über die Käuflichkeit der US-Wahlen durch reiche SponsorInnen, die Behinderung von «unerwünschten» WählerInnen (insbesondere AfroamerikanerInnen) durch die Rechte, über das föderalistische und fehleranfällige Wahlprozedere, über die fehlenden Chancen für Drittparteien. Alle diese Themen bleiben auch 2016 aktuell.

Doch diesmal behauptet der US-Linksintellektuelle Tom Engelhardt (71), der die politische Entwicklung seines Landes seit Jahrzehnten kritisch begleitet, der Zerfall der Demokratie sei so weit fortgeschritten, dass sich eine «neue amerikanische Ordnung» abzeichne. Eine Ordnung, die er noch nicht benennen könne – die aber bestimmt nichts Gutes verspricht. Denn ihre hauptsächlichen Triebkräfte, so Engelhardt, seien die Konzentration von Reichtum und Macht in einer neuen plutokratischen Klasse sowie die ständige Ausweitung des Sicherheitsapparats.

Nehmen wir Hillary Clintons E-Mail-Geschichte. Für die meisten US-Medien handelte es sich dabei um einen typischen Wahlskandal: Eine Politikerin begeht einen Fauxpas. Die eigene Partei spielt ihn herunter. Die Gegenpartei bauscht ihn auf. Alles wie gehabt? Immerhin hat hier eine amtierende Aussenministerin ihr persönliches E-Mail-System benutzt, um offizielle Regierungsgeschäfte zu führen. Und sie hat später eigenmächtig entschieden, welche dieser Mails privat sind, also gelöscht werden können.

Das alles geschah nicht etwa in einer Autokratie, sondern in den USA, die ihr mustergültiges Demokratiemodell bekanntlich überallhin exportieren wollen. Im Nachgang zur Affäre Clinton stellte sich übrigens heraus, dass auch ihr Vorgänger Colin Powell mit ausländischen Würdenträgern per Privatmail korrespondierte – unter anderem im Vorfeld des Irakkriegs – und dass er die ganze E-Post später einfach gelöscht hat. Und auch Clintons politischer Gegner Jeb Bush nutzte in seiner Zeit als Gouverneur von Florida ein privates Mailkonto und übergab nach Amtsaustritt dem Staatsarchiv bloss eine handverlesene Auswahl seiner Korrespondenz.

Es geht hier also nicht um demokratische oder republikanische Fehltritte, sondern um kleine Symptome einer grossen Entwicklung: Seit den Anschlägen vom September 2001 beschleunigt sich in den USA die Privatisierung des Staats, insbesondere der Teile, die die nationale Sicherheit betreffen. In wenigen Jahren ist ein kriegsindustrieller Komplex entstanden, der alle Bereiche von militärischer Infrastruktur und Dienstleistungen für die Armee bis hin zum eigentlichen Kampfeinsatz umfasst. Dazu üben Hunderttausende von freien MitarbeiterInnen (wie ehemals Edward Snowden) Geheimdiensttätigkeiten für den Sicherheitsstaat aus. In dieser schönen neuen Welt ist nicht das Private politisch, sondern das Politische wird privat.

Politik als Luxus

Privatisiert worden ist mit einem höchst politischen Entscheid des obersten Gerichtshofs der USA im Frühjahr 2010 auch der Wahlkampf selber. Damals hob der Supreme Court ein hundert Jahre altes Verbot für Unternehmen auf, sich direkt in den Wahlkampf einzumischen (siehe WOZ Nr. 9/2012 ). Firmen hätten ebenso wie BürgerInnen ein Recht auf freie Meinungsäusserung, so die Mehrheitsmeinung des Bundesgerichts. Seither bricht jeder neue Wahlzyklus finanzielle Rekorde. 2012 kostete allein die Präsidentschaftswahl über zwei Milliarden Dollar. 2016 wird der gleiche Anlass voraussichtlich die 5-Milliarden-Dollar-Grenze erreichen. Die Mehrheit des Geldes kommt von ganz wenigen SponsorInnen. Die rechtskonservativen Koch Brothers haben bereits versprochen, mindestens eine Milliarde in die Wahlsaison 2016 zu investieren. Das grösste Super-Pac (Political Action Committee) von Hillary Clinton will 500 Millionen Dollar sammeln, gefragt sind vor allem Spenden von über einer Million.

Da ist es nur folgerichtig, dass sich die Primaries, die Vorwahlen, von den traditionsreichen US-Bundesstaaten Iowa und New Hampshire in mondäne Luxusresorts verlagert haben. Hier versammeln sich nun vorab rechtslastige Millionäre und Milliardärinnen und laden die politischen KandidatInnen zum Bewerbungsgespräch vor.

Wahlzwang gegen die Plutokratie

Was die immer teureren Politkampagnen der letzten US-Wahlen nicht bewirkt haben, ist eine höhere Stimmbeteiligung. Und wahlabstinent sind in den USA besonders die Jungen, Leute mit tiefem Einkommen und Angehörige ethnischer Minoritäten. Und genau diese Bevölkerungsgruppen würden ihre Stimme grossmehrheitlich den DemokratInnen geben. Kein Wunder also, dass Präsident Obama derzeit laut über eine allgemeine Wahlpflicht nachdenkt, um den Einfluss des grossen Geldes zu verringern. So argumentiert ausgerechnet der Präsident, der 2008 vom öffentlichen zum privatwirtschaftlichen Kampagnenfinanzierungsmodell wechselte, um so an mehr Wahlkampfmittel zu kommen. Ein Politiker, der seine Gegner bei jeder Wahl gerade auch dank seines beachtlichen Werbebudgets besiegte. Was ist, wenn viele deshalb daheim bleiben, weil beide Parteien ganz offensichtlich und zunehmend von Reichen kontrolliert werden und die Auswahl so gering ist, dass sich der Urnengang ganz einfach nicht lohnt?

Gemäss einer grossen Studie der University of Chicago hat das Vertrauen der US-Bevölkerung in die drei Staatsorgane Exekutive, Legislative und Justiz ein historisches Tief erreicht. Während Wissenschaft, Religion, Bildung und Medizin sich in den letzten Jahrzehnten etwa gleichbleibender Beliebtheit erfreuten, nahm das Misstrauen gegen die Politik – und die Medien – markant zu. Ein Fünftel der US-AmerikanerInnen hält gar nichts mehr vom Rechtssystem, über die Hälfte steht ihm skeptisch gegenüber. Die Regierung geniesst das volle Vertrauen von nur elf Prozent des Volks (drei Prozent bei den RepublikanerInnen). Noch schlimmer steht es beim Kongress. Für mehr als die Hälfte der US-AmerikanerInnen hat das nationale Parlament jede Bedeutung verloren. Gerade noch fünf Prozent sprechen den GesetzgeberInnen ihr Vertrauen aus. Der Kongress ist einerseits von der Regierung Bush/Cheney unter Berufung auf den Ausnahmezustand entmachtet worden. Andererseits haben sich die ParlamentarierInnen, vorab diejenigen rechts der Mitte, in den letzten Jahren mit ihrer sturen ideologischen Haltung, mit Regierungsblockaden und purer Obstruktion selber zunehmend unglaubwürdig gemacht. Eine Wahlpflicht ist angesichts dieses Legitimitätsdefizits der Staatsorgane eine ziemlich undemokratische Idee.

Die gleiche Bevölkerung, die dem Parlament kaum mehr etwas zutraut, glaubt unentwegt an die Kompetenz des Militärs. Dieses bietet sich politisch als kleinster gemeinsamer Nenner an. In Fragen der nationalen Sicherheit wird sich die zerrissene Republikanische Partei am ehesten einig. Und eine enge Bindung an den Sicherheitsstaat garantierte auch dem politisch bedrängten demokratischen Präsidenten zunehmend Halt. Seine Wahl hatte Präsident Obama 2008 als Gegner des Irakkriegs gewonnen. Bei Amtsantritt versprach er mehr «Sonnenlicht und Transparenz» bei allen Regierungsgeschäften. Mittlerweile identifiziert sich die Obama-Regierung geradezu mit den US-Sicherheitsinstitutionen. Und sie geht hart gegen diejenigen vor, die als WhistleblowerInnen skandalöse Staatsaktivitäten ans Licht der Öffentlichkeit bringen wollen.

Das Wachstum des US-Sicherheitsstaats ist bemerkenswert. Nach 2001 ist neben dem Pentagon ein zweites grosses Verteidigungsministerium für innere Sicherheit entstanden, das Department of Homeland Security. Und beide Ministerien sind umgeben von einer Vielzahl privater Sicherheitsunternehmen, LobbyistInnen und verbündeter PolitikerInnen. Zudem beherbergen sowohl das Pentagon als auch die Heimatschutzbehörde ein wachsendes und unübersichtliches Netz von Geheimdiensten. Realistisch berechnet kostet der ausgebaute nationale Sicherheitsstaat die US-Steuerzahlenden jedes Jahr gegen eine Billion Dollar.

Dieser Wildwuchs wird so lange weitergehen, wie das grosse Geschäft mit der Angst wirtschaftlich floriert. Und so lange, wie auch politische Kräfte diese Angst gründlich schüren und ausbeuten. Am offensichtlichsten geschieht das zurzeit mithilfe der Tea Party, die nur auf den ersten Blick als Bewegung unzufriedener BürgerInnen durchgeht. Beim genaueren Hinsehen entpuppen sich solche Gruppierungen als blosser Spielball von Koch Brothers und Konsorten, die das Vertrauen in den Sozialstaat und die Regeln der Demokratie im Interesse der Plutokratie untergraben.

Biss in den sauren Apfel

Es gibt in den USA natürlich auch andere politische Kräfte. Die Occupy-Bewegung hat das Thema der sozialen Ungleichheit gesellschaftsfähig gemacht. Zahlreiche Proteste und Streikaktionen für höhere Mindestlöhne führen den Kampf der «99 Prozent» nun auf lokaler Ebene, vorab in den grossen Städten, weiter. Die anhaltenden Reaktionen im ganzen Land auf die rassistische Polizeibrutalität in Ferguson und anderswo zeigen, dass nicht alle sich so leicht einschüchtern lassen. Und unter dem politischen Radar handeln sehr viele US-AmerikanerInnen solidarisch mit denen, die wenig oder gar nichts haben.

Doch der Weg von solch vereinzelten Hoffnungszeichen zu mehr gesellschaftspolitischem Einfluss ist lang, verschlungen und mit vielen Hindernissen verstellt. Viele Linke werden auch bei der Präsidentschaftswahl 2016 wieder in den sauren Apfel beissen und den demokratischen Kandidaten oder – wahrscheinlicher – die demokratische Kandidatin wählen. Mit möglichst wenig Aufwand. Denn politisch gibt es wahrhaftig Wichtigeres zu tun.

Lotta Suter hat als WOZ-Korrespondentin von 1997 bis 2011 in der Nähe von Boston gelebt und hat im Rotpunktverlag zwei Sachbücher zum permanenten Ausnahmezustand in den USA veröffentlicht.

Das Buch «Einzig und allein: Die USA im Ausnahmezustand» ist im WOZ-Shop erhältlich.