Festung Europa: Europas Wettlauf gegen Flüchtlinge
Österreich setzt Asylverfahren aus, Frankreich blockiert seine Grenzen, und die Türkei schickt zur Abschreckung Wasserwerfer. Auch Italien will zu ungewöhnlichen Mitteln greifen – allerdings mit anderer Zielsetzung.
Die Asylpolitik in Europa wird dieser Tage sehr sichtbar. Ihr Scheitern manifestiert sich immer wieder von neuem und an den unterschiedlichsten Schauplätzen: an Grenzübergängen und Bahnhöfen oder auf Meeresklippen. Etwa im türkischen Akcakale am Grenzübergang zu Syrien. Mehrere Tausend syrische Flüchtlinge harrten dort vergangenes Wochenende stundenlang zwischen heranrückenden IS-Kämpfern und einem hohen Grenzzaun aus. Hinter dem Zaun standen türkische PolizistInnen mit Warnschusspistolen und Wasserwerfern bereit, um die Flüchtlinge auseinanderzutreiben. Seit Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland vor vier Jahren hat die Türkei bis zu zwei Millionen Menschen aufgenommen. Am vergangenen Wochenende haben die Behörden aber vorübergehend die Grenzen bei Akcakale dicht gemacht.
Auch im italienischen Ventimiglia am Grenzübergang zu Frankreich liess sich das Scheitern europäischer Asylpolitik beobachten. Das italienische Aufnahmesystem ist schon lange kollabiert. Weil die Unterkünfte überlastet sind, übernachteten Flüchtlinge am Mailänder Bahnhof oder am Tiburtina-Bahnhof in Rom im Freien. Viele zogen weiter nach Norden, wo einige Verwandte haben, etwa in Richtung Frankreich, wo sie von einer Horde französischer GrenzbeamtInnen erwartet wurden. So strandeten Hunderte am Bahnhof von Ventimiglia und wurden von der Polizei an der Weiterreise gehindert. Dutzende Flüchtlinge traten daraufhin in einen Sitzstreik, protestierten auf den Meeresklippen in Sichtweite der Côte d’Azur mit Transparenten und Sprechchören gegen die faktisch geschlossene Grenze. Am Dienstag räumte die italienische Polizei ein Flüchtlingscamp.
Vermeintlich aus Sorge um die Sicherheit des G7-Gipfels im bayerischen Elmau hatte Deutschland während zweier Wochen das Schengen-Abkommen ausgesetzt. Bei seiner Grenzblockade berief sich Frankreich auf dieselbe Ausnahmeregelung im Vertrag.
Ausgesetzte Verfahren in Österreich
Und das Scheitern der europäischen Asylpolitik wird auch in Österreich sichtbar. Im ersten Quartal 2015 sind 14 225 Asylanträge eingegangen – ein Zuwachs von fast 160 Prozent gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum. Weil sich Bund und Länder über Unterkünfte streiten, müssen AsylbewerberInnen teils in Zeltstädten hausen. Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) hat jetzt alle Asylverfahren bis auf weiteres ausgesetzt. Ankommende Flüchtlinge sollen nur noch dann erfasst werden, wenn die Behörden sogenannte Dublin-Fälle vermuten. Dann also, wenn die Flüchtlinge nicht in Österreich bleiben können und in das Land zurückgeschafft werden, in dem sie erstmals europäischen Boden betraten.
In der Schweiz zeigte sich die SVP von dieser Idee dermassen begeistert, dass Parteipräsident Toni Brunner in der «SonntagsZeitung» auch gleich ein Asylmoratorium für die Schweiz forderte.
Statt eine gemeinsame gesamteuropäische Flüchtlingspolitik voranzutreiben, präsentiert sich jedes Land als Insel. So entsteht ein zynischer «race to the bottom», wie es in der Spieltheorie heisst: ein Abwärtswettlauf, der auf dem Rücken der Flüchtlinge ausgetragen wird. Die Länder wollen nur dann zusammenarbeiten, wenn sie sich der Kooperation aller anderen sicher sind. Haben sie diese Gewissheit nicht, bleibt die gegenseitige Unterstützung aus, mit fatalem Ergebnis für die einzelnen Staaten – und vor allem auch für diejenigen, die sich auf der Flucht befinden.
Zynisches Feilschen
Dieser Wettlauf wurde auch in den langwierigen Quotendiskussionen der letzten Wochen deutlich (siehe WOZ Nr. 23/2015 ). Wer mit dem neuen System mehr Flüchtlinge aufnehmen müsste als bisher, stemmt sich gegen den Vorschlag, der nächste Woche beim EU-Flüchtlingsgipfel verhandelt werden soll. Mittlerweile blockiert ein Dutzend Länder den Plan, der somit wohl gestorben sein dürfte. Bereits am Dienstag feilschten die InnenministerInnen der Mitgliedstaaten stundenlang um die Verteilung der Flüchtlinge. Einigen konnten (oder wollten) sie sich nicht.
Auch wenn sich die Türkei stets solidarischer gezeigt hat als ihre Nachbarn auf dem europäischen Kontinent: Die Spannungen nehmen auch dort zu, wie die vorübergehende Grenzblockade gezeigt hat. Ähnliches gilt für Italien, wo die faschistische Lega Nord gegen Flüchtlinge hetzt und damit die Gesellschaft spaltet. Und in Österreich konnte die rechtspopulistische Freiheitliche Partei (FPÖ) bei den letzten Landtagswahlen ihren WählerInnenanteil mitunter verdoppeln. Den Erfolg führen BeobachterInnen auf die fremdenfeindliche Propaganda zurück: auf Slogans wie «Fremd im eigenen Land» oder «Neue Wohnungen statt neue Moscheen». Den Wahlkampf in der Steiermark führte die FPÖ in bester SVP-Manier: «Steirische Asylheime – jede Woche ein Polizeieinsatz» war auf ihren Plakaten zu lesen. Mit ihren Grenzblockaden und Asylstreiks lassen sich auch die EU-Regierungen vor den Karren der FremdenfeindInnen spannen.
Derweil zeigte sich Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi von dem Gezerre um die Quoten so verärgert, dass er für den kommenden EU-Gipfel einen eigenen «Plan B» in Aussicht stellte, falls die Regelung am Widerstand der Länder scheitern sollte. Zwar ging er nicht näher auf den Inhalt ein, in den italienischen Medien kursierten dennoch Gerüchte, wie sich Rom in Zukunft Gehör zu verschaffen gedenkt. Renzi wolle ein «Europa der zwei Geschwindigkeiten» in der Asylpolitik vorschlagen, hiess es. Demnach sollen die reicheren Gründungsmitglieder der EU, also Deutschland, Frankreich, Italien und die Beneluxstaaten, eine flexible Gemeinschaft bilden, die sich um die solidarische Verteilung der Flüchtlinge bemüht.
Es wäre ein realistischer Versuch, die Kosten gerecht zu verteilen und die wohlhabenden Länder, die de facto bereits seit langem die meisten Flüchtlinge aufnehmen, auch gesetzlich in die Verantwortung zu nehmen. Bereits der Schengen-Raum oder die Eurozone unterstehen ähnlichen Richtlinien. Gleichzeitig liessen sich so die BlockiererInnen einer europäischen Asylpolitik ausbremsen, die Empathie vor nationale Hahnenkämpfe stellen würde.
In Rom kursiert aber auch ein zweites Szenario: Sollten sich die EU-Staaten weiterhin Italiens Anliegen gegenüber verschliessen, will man die Flüchtlinge bei ihrer Ankunft mit einer sechsmonatigen Aufenthaltserlaubnis ausstatten. Und ihnen so im Alleingang ermöglichen, jederzeit in Richtung Norden weiterzureisen.
Betroffen reden
Am Samstag, übrigens, ist zum 15. Mal Weltflüchtlingstag (vgl. Politour-Rubrik ). Dann will die Uno das Schicksal der Menschen ins Gedächtnis rufen, die auf der Flucht sind. PolitikerInnen werden betroffene Reden halten, zu Solidarität aufrufen oder vor Asylunterkünften posieren. Dann werden auch die neusten Zahlen zur globalen Flucht veröffentlicht. Die Welt erlebe «die schlimmste Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg», konstatierte Amnesty International bereits im Vorfeld.
Zehn Leichen in Berlin
2010 hatten sie «Säulen der Schande» aufgestellt, um an das Massaker von Srebrenica zu erinnern. Und im November 2014 schickte sich das Zentrum für Politische Schönheit rund um den Schweizer Theaterregisseur und Aktionskünstler Philipp Ruch an, die Zäune an den europäischen Aussengrenzen abzubauen. Wogegen das Künstlerkollektiv auch protestiert, ihre stets radikalen Projekte bleiben selten unbeachtet.
Am Dienstag startete nun die neuste Kampagne mit dem Titel «Die Toten kommen». Man wolle «die Opfer der Abschottungspolitik im Herzen Europas – im mächtigsten Mitgliedstaat der EU – menschenwürdig bestatten», schrieb das Kollektiv. Dafür hatte die Gruppe nach eigenen Angaben mit Zustimmung der Familie die Leiche einer im Mittelmeer gestorbenen Syrerin exhumiert und nach Berlin gebracht, wo sie beerdigt wurde. Insgesamt zehn solcher Aktionen sind geplant.