Asylpolitik: 1644 raus – 1500 rein
Das Dublin-Regime ist ein gewaltsamer Verschiebebahnhof gegen Flüchtlinge. Bundesrätin Simonetta Sommaruga rechtfertigt das System und betreibt Zahlenakrobatik.
«Der Bundesrat erachtet eine solidarische Verteilung von schutzbedürftigen Personen innerhalb Europas sowohl kurz- als auch längerfristig als wichtig», hiess es in einer Medienmitteilung des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements (EJPD) vom 18. September. Mit der Übernahme von zunächst 1500 Flüchtlingen, die in Italien und Griechenland angekommen waren, beteiligt sich die Schweiz – vorerst freiwillig – an zwei Programmen der Europäischen Union (EU).
Menschen hin und her schieben
Mit dem ersten Programm, das die EU-InnenministerInnen im Juli dieses Jahres beschlossen haben, sollten 40 000 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland in andere EU-Staaten «umgesiedelt» werden. Eine Verteilung nach festen Quoten scheiterte aber am Widerstand Frankreichs, Spaniens, Österreichs und sämtlicher osteuropäischer EU-Staaten; Britannien nahm derweil die Opt-out-Möglichkeit wahr (eine Ausnahmeregelung in den EU-Verträgen, die es dem Land erlaubt, sich aus der Migrationspolitik der EU auszuklinken). Die freiwilligen Zusagen der EU-Staaten reichten somit nur noch für die «relocation» von 32 000 Flüchtlingen.
Bei der Verabschiedung des zweiten Programms am Dienstag letzter Woche kam es zu einer nach EU-Recht zwar möglichen, aber unüblichen Abstimmung: Ungarn, Tschechien und die Slowakei blieben bei ihrem Nein, wurden aber überstimmt. Weitere 120 000 Flüchtlinge sollen nun nach einem festen Schlüssel wiederum aus Italien und Griechenland auf alle anderen EU-Staaten verteilt werden.
Mit der freiwilligen Beteiligung könnte es nun aber auch für den Nicht-EU-Staat Schweiz bald vorbei sein: Am 8. Oktober werden sich die EU-InnenministerInnen mit einem «Umsiedlungsmechanismus für Krisensituationen» befassen, der künftig immer zur Anwendung kommen soll, wenn ein Mitgliedstaat mit einem «grossen und unverhältnismässigen Zustrom von Drittstaatsangehörigen» konfrontiert ist. Die EU-Kommission möchte das in der Dublin-Verordnung festschreiben. Da die Schweiz ein Dublin-assoziierter Staat bleiben will, wird sie diese Regelung übernehmen müssen.
Die Begeisterung von SP und Grünen
Neben dem Schengen- ist das Dublin-Abkommen ein zentrales Element des repressiven Migrationsmanagements der EU. Flüchtlinge können danach in der EU und den assoziierten Ländern nur ein einziges Asylgesuch stellen. Ihr Zielland dürfen sie jedoch nicht selbst wählen. Zuständig ist bis auf wenige Ausnahmen der Staat, der als Erstes betreten wurde. Alle «unzuständigen» Staaten können die Betroffenen in angebliche Erstasylländer zurückschaffen – und das sind in der Regel die Staaten an der EU-Aussengrenze.
Den Anfang dieses Regimes bildete ein im Juni 1990 von den Staaten der Europäischen Gemeinschaft (der Vorläuferin der EU) in der irischen Hauptstadt unterzeichnetes Abkommen, dessen Ratifikation sich jedoch lange verzögerte. 2003 wurde es deshalb in eine EU-Verordnung (Dublin II) umgewandelt. Gleichzeitig erhielt das Dublin-Abkommen sein informationstechnisches Rückgrat: die Eurodac-Datenbank, in der die Fingerabdrücke sämtlicher AsylbewerberInnen gespeichert werden. Der Abgleich neu eingegebener Abdrücke erlaubt es seither, automatisch festzustellen, ob und in welchem Staat die betreffende Person bereits zuvor registriert wurde.
Die Begeisterung der offiziellen Schweiz für das Dublin-Abkommen ist alt. Sie hatte gar Ambitionen, eine Pionierrolle zu spielen. Bereits 1992, ein Jahrzehnt bevor Eurodac ans Netz ging, präsentierte der damalige EJPD-Vorsteher Arnold Koller seinen EU-KollegInnen das Projekt eines Fingerabdruckdatensystems namens Eurasyl. Die EU lehnte dankend ab. Nach dem Nein zum Europäischen Wirtschaftsraum in der Volksabstimmung Ende 1992 war ein Mitmischen der Schweiz bei Dublin/Schengen vorerst undenkbar.
Erst das Freizügigkeitsabkommen mit der EU 2001 ebnete den Weg für neue Verhandlungen und schliesslich den Abschluss von Assoziationsabkommen drei Jahre später. Nur die SVP ergriff das Referendum. Nicht nur FDP und CVP, auch die SP und die grosse Mehrheit der Grünen setzten sich damals für den Schengen/Dublin-Anschluss ein. Der Beitritt zur repressiven Seite der EU wurde nun als Öffnung der Schweiz gegenüber Europa verkauft. Einzig kleine Linksaussenparteien und diverse asylbewegte Organisationen engagierten sich für ein linkes Nein. Bereits damals wiesen sie darauf hin, dass die Schweiz als Binnenstaat sich mit dem Dublin-Beitritt einen grossen Teil der Asylgesuche vom Hals schaffen würde – und Flüchtlinge ohne Prüfung ihrer Gesuche in die angeblich zuständigen Erstasylstaaten zurückschaffen könnte.
Die Befürchtung hat sich bestätigt. Die gerade vom Parlament in Bern abgesegnete «Neustrukturierung des Asylwesens» baut darauf auf, dass rund vierzig Prozent aller Asylgesuche in der Schweiz Dublin-Fälle sind. Sie sollen künftig innerhalb von 120 Tagen bis zum «Vollzug der Wegweisung» bearbeitet werden.
Gemäss der Asylstatistik der ersten acht Monate dieses Jahres betrachtete sich die Schweiz in über 9000 Fällen als «unzuständig» und ersuchte andere Dublin-Staaten um die Rücknahme der Flüchtlinge. 3800 Personen erhielten deswegen Nichteintretensentscheide. Während die Schweiz bis August bereits 1644 Menschen in andere Dublin-Staaten ausgeschafft hat – davon 770 nach Italien und 65 nach Ungarn (siehe WOZ Nr. 39/2015 ) –, will sie nun 1500 Flüchtlinge aus Italien und Griechenland aufnehmen. Diese will der Bundesrat übrigens auf das im vergangenen März beschlossene Kontingent von 3000 Flüchtlingen anrechnen, die eigentlich unmittelbar aus Syrien übernommen werden sollten. Solidarität mit «schutzbedürftigen Personen» sähe anders aus.
Notfalls mit Gewalt
Das gilt für die Umsiedlungsprogramme insgesamt: Die Flüchtlinge dürfen weiterhin nicht mitreden, wohin sie umgesiedelt werden. Die Entscheidung treffen die beteiligten Staaten, nachdem den Flüchtlingen zuvor – notfalls mit Gewalt – in den sogenannten Hotspots (den Haftlagern, die die EU derzeit an der Aussengrenze aufbaut) Fingerabdrücke abgenommen und sie in Eurodac erfasst wurden. Den Staat, dem sie zugewiesen werden, dürfen die Umgesiedelten nicht verlassen, auch wenn der sie eigentlich gar nicht aufnehmen will. Verlassen sie ihn doch, wird man sie wieder dorthin zurückschaffen. Das Dublin-Regime bleibt auch mit dem neuen «Krisenmechanismus» ein unwürdiger und gewaltsamer Verschiebebahnhof.
Was könnte Bundesrätin Simonetta Sommaruga tun? Es wäre relativ einfach, das repressive Regime auszuhebeln. Dafür bräuchte es nicht einmal eine Kündigung der Abkommen mit der EU. Allein die humanitäre Klausel der Dublin-Verordnung gibt den daran beteiligten Staaten schon die Möglichkeit, selbst auf sämtliche hier gestellten Asylgesuche einzutreten.