Kost und Logis: Meckern macht munter

Nr. 25 –

Karin Hoffsten über ein ländliches Idyll auf städtischem Boden.

Für Schweizer «Heidi»-Filme durfte ich als Kind ins Kino. Danach riefen meine Freundin Heidi und ich uns im Garten gutturale Laute zu, die wir für Schweizerdeutsch hielten. Heidi musste den Geissenpeter spielen, weil sie älter und ich dunkellockig war. Voller Leidenschaft imaginierten wir Peters Geissen, denn an Tieren kannte ich aus der Nähe nur unsern Kater Pussy; Landwirtschaft gabs im Kohlenbergbaugebiet nicht, und Hunden ging ich vorsichtshalber aus dem Weg. Eine echte Geissenwiese, wie sie seit einiger Zeit am nördlichen Stadtrand von Zürich existiert, hätte uns vermutlich vor Glück delirieren lassen.

Den bezaubernden Ort beim Bahnhof Seebach verdankt Zürich Julia Hofstetter, einer Biologin, Fachfrau Umweltbildung und Zeichnerin, die eines Tages entdeckte, dass dort eine Wiese zu pachten war. Das eine Hektare grosse Gebiet gehört der Wasserversorgung Zürich, war früher eine Kiesgrube und darf nicht überbaut werden. Weil ihr die Wiese etwas leer vorkam, griff Julia Hofstetter auch zu, als ihr von einem Bauern in Göschenen fünf Stiefelgeissen zum Kauf angeboten wurden – sie wurde Ziegenhirtin. Die notwendigen Kenntnisse zur Geissenhaltung vermittelte ihr der Bauer, in Fragen der Geissengesundheit steht ihr das Zürcher Tierspital zur Seite.

Sieben Geissen leben inzwischen auf dem Areal; zwei kamen erst in Zürich zur Welt, doch das ist der letzte Nachwuchs, denn die Ziegenböcke sind kastriert. Jetzt setzt sich der Verein Stadtgeiss für «die liebevolle, artgerechte Haltung von Ziegen und (…) damit verbundene Umweltbildungs-, Kunsthandwerk- und Quartieranlässe» ein. Die entsprechenden Ideen verwirklicht Julia Hofstetter, unter anderem in regelmässigen Workshops mit Schulklassen.

Die Geissen hingegen dürfen sich zweckfrei ihres Lebens freuen, denn die Vereinsmitglieder leben bevorzugt vegetarisch. In der ländlichen Idylle mit altem Baumbestand und steilen Hängen zupfen die Ziegen zufrieden frisches, saftiges Gras und schrecken auch vor dem Verzehr von Neophyten wie Robinien oder dem sogenannten Berufkraut nicht zurück, sollten sie im Weg stehen. Eingewanderten Gewächsen machen nämlich seit einiger Zeit auch Grün Stadt Zürich und der Verein Grünwerk mit Unterstützung von Zivildienstleistenden den Garaus: Auf der Geissenwiese und in deren Umgebung soll sich eine möglichst vielfältige Wiesenvegetation ausbreiten.

Die Stadtgeissenwiese steht allen offen; BesucherInnen können sich hier nicht nur an den Geissen freuen, sondern auch an Zeichnungen, Texten und Kunstwerken wie etwa einer Ameisenkampfarena oder dem Galgenbaum. Und sie können das Motto der Stadtgeiss beherzigen: «Meckern! Denn fröhliche Empörung und gründliches Kauen sind die Essenz allen Wandels.»

Karin Hoffsten konnte ihre Tierliebe von Katzen über Geissen inzwischen sogar auf wiederkäuende Kühe vor dem Ferienhausschlafzimmerfenster ausdehnen.