Kost und Logis: Noch schnell die Welt retten
Ruth Wysseier macht einen bescheidenen Vorschlag
Das Schöne und der Fluch an der Arbeit im Rebberg sind, dass meist nur meine Hände routiniert arbeiten, während der Rücken murrt und der Kopf faulenzt. Das ist gefährlich, weil sich Gedanken völlig unkontrolliert breitmachen können, etwa die neusten Informationsfetzen aus Facebook-Appellen. Das fürchterlichste Weltuntergangsszenario, das gerade die Runde macht und mich quält, heisst «Der Planet schlägt zurück» aus dem «New York Magazine». Hunger, Stürme, Kriege drohen, der Planet wird sich rasant erhitzen, die Menschen werden von innen gekocht, Pest und Cholera kehren zurück. Ich halte sie fast nicht mehr aus, diese verstörenden, lähmenden Texte, und lese sie doch.
Und dann erhole ich mich bei den Geschichten, Fotos und Zeichnungen der Zürcher Stadtgeissenhirtin Julia Hofstetter. Kunstvoll arrangiert und fotografiert sie Fundstücke, Blumen, Früchte, beschreibt ihren Hirtinnenalltag und den ihrer Geissen mit naiven, fröhlichen, tiefsinnigen Illustrationen. Auf ihrem Blog geht die Welt nicht unter, sie geht auf. Die Aussteigerin entdeckt die schönen Dinge ihrer Umwelt täglich neu, sie hat sich ein idyllisches Universum erschaffen und lädt die Öffentlichkeit ein, daran teilzuhaben und mit anzupacken.
So geht das in meinem Kopf hin und her zwischen Pest und Geissenparadies, bis ich merke, dass ich viel zu langsam vorwärtskomme, weil meine Hände so viel Berufskraut ausreissen und kanadische Goldruten. Diese invasiven Neophyten verbreiten sich wie blöd. Sie machen mich zornig, wir haben keine Chance gegen ihre Übermacht. Selbst wenn wir alle Reben jäten könnten, blühen sie ringsum weiter, in Gärten, an Wegrändern und flächendeckend entlang der Bahngleise, und lassen ihre Samen wieder in die Reben fliegen.
Es bräuchte tausend Hände hier, und ich überlege, wie ich meine umweltbewussten Facebook-FreundInnen dazu bringen könnte, von Zeit zu Zeit offline zu gehen und Hand anzulegen für den Schutz der Biodiversität. Es gibt doch sicher mehr Zugreisende pro Quadratmeter Bahnböschungen als WinzerInnen pro Quadratmeter Reben. Vielleicht könnten wir es machen wie früher in Vietnam auf dem Land: Samstags wäre jeweils Gemeinwohltag, die Menschen kommen zusammen, streichen Schulzimmer neu, mähen Gemeindewiesen, stellen Wege instand. Es geht sonst einfach nicht auf, die vier Prozent LandwirtInnen in der Schweiz können nicht die ganze Verantwortung übernehmen.
Der Himmel ist voller Kondensstreifen. Dabei müssten doch alle sofort auf Flugreisen verzichten, um das Schlimmste noch abzuwenden. Warum wird Fliegen immer billiger? Warum kostet ein Schnäppchenflug nach London gerade noch so viel wie ein paar Päckli Zigaretten? Wie könnte man die über eine Milliarde Menschen aus aller Welt, die jedes Jahr in die Ferien reisen, aufhalten? Die Goldruten lachen mich aus, und ich nehme mir vor, mal bei der Stadtgeissenhirtin reinzuschauen. Vielleicht hat sie eine Idee.
Ruth Wysseier ist Winzerin am Bielersee.