Essay: Städte statt Staaten

Nr. 28 –

Der Anteil von NeuzuzügerInnen ist in Städten am grössten. Eine Demokratisierung der Demokratie und die Auflösung der helvetischen Spannungen gelingt am ehesten dort.

Kuratorin Katharina Morawek am Zürcher Escher-Wyss-Platz: «Städte sind immer auch Orte von sozialer Mobilität und politischer Veränderung.»

Im Oktober wird in der Schweiz gewählt. Das Wort «Wahl» hat dabei einen Beigeschmack, denn: Woraus darf gewählt werden? Wer bestimmt über die Auswahl?

Spätestens seit dem Ergebnis vom 9. Februar 2014 ist klar: Abstimmungen über migrationspolitische Themen sind immer auch ein direktes Signal an jene Menschen, die bereits in der Schweiz leben (siehe WOZ Nr. 26/15 ). Die hier Steuern zahlen, aber nicht darüber mitentscheiden dürfen, wie diese verwendet werden und wie die Gesetze gestaltet werden sollen, die unser Zusammenleben beeinflussen. Tatsächliche Demokratisierung heisst aber eben auch mitzudefinieren, was die Themen sind, über die geredet und gestritten wird. Es braucht eine Demokratisierung der Demokratie.

Untersuchungen über das Wahl- und Abstimmungsverhalten zeigen immer wieder, wie sehr sich die Städte darin vom Land oder auch den Agglomerationen unterscheiden: Städte erscheinen dabei oft als kosmopolitischer. Offensichtlich stimmt das nicht, wenn man die Ablehnung des kommunalen Wahlrechts für AusländerInnen in den grossen Deutschschweizer Städten betrachtet – wohlgemerkt den Orten mit den höchsten Anteilen nicht schweizerischer, also nicht wahlberechtigter Bevölkerung und daher dem grössten Demokratiedefizit.

«Ghetto» oder «Global City»

Was vielfach als «Dichtestress» problematisiert wird, ist nicht zuletzt Auswirkung der Beschleunigung von metropolitanen Wachstumsmotoren. Diese ziehen nicht nur MigrantInnen als Arbeitskräfte an, die dann aber räumlich in die Aussenbezirke und Agglomerationen ausgelagert werden. Ganze innerstädtische Gebiete werden aufgewertet und zum Raum für metropolitane Eliten erklärt.

Städte versuchen heute, sich im Wettbewerb der Global Cities als kosmopolitisch zu branden. Da fungieren migrantisch geprägte Stadtviertel oft als multikulturelles Ornament – Vielfalt als Standortvorteil, Diversity als ökonomischer Faktor. Die unternehmerische Stadt ist nicht mehr nur die Stadt der nationalen Solidargemeinschaft, in der es den sozialen Frieden der schweizerischen AbstammungsgenossInnen vor «de Usländer» zu schützen gilt – es ist vor allem die Stadt der Tüchtigen. Aktiv und unternehmerisch sollen MigrantInnen zur Prosperität der Stadt beitragen. Dabei wird ausgewählt, wer fit für – immer auch ökonomisch geleitete – Integration ist und wer nicht. Soziale oder politische Rechte sind in diesem Paket nicht vorgesehen.

Und doch: In den Städten ist auch historisch gesehen der Anteil an neu Hinzugekommenen immer am grössten, vor allem aus ökonomischen Gründen. Gleichzeitig sind Städte immer auch Orte von sozialer Mobilität und politischer Veränderung. In Deutschland und Frankreich waren es seit den siebziger Jahren vor allem die Bewegungen von MigrantInnen für das Recht auf Wohnen, Familienhilfe oder besseren Lohn, die zu rechtlichen Verbesserungen und Veränderungen in der städtischen Integrationspolitik geführt haben. Auch die Kämpfe von Asylsuchenden und MigrantInnen um Bewegungsfreiheit, Sicherheit und Teilhabe in vielen europäischen Städten fordern die nationalen Logiken derzeit heraus.

Diese urbanen Konflikte stellen das demokratische Selbstverständnis der Schweiz vor Herausforderungen. Was könnte in den (post-)migrantischen Städten passieren, um die herrschende helvetische Spannung ein Stück weit in Richtung Demokratie aufzulösen?

Städtische Identitätskarten

Ein Konzept, das aktuell international diskutiert wird, ist das der «urbanen BürgerInnenschaft». Es soll den Zugang zu Ressourcen und sozialen Rechten für alle BewohnerInnen einer Stadt ermöglichen. Ist die StaatsbürgerInnenschaft, wie der Name schon sagt, immer an die Grenzen eines Nationalstaats gebunden, an Mobilitätskontrolle und Sesshaftigkeit, so meint StadtbürgerInnenschaft die Anpassung politischer Instrumentarien an die vielfältige Normalität. Auch die StadtbürgerInnenschaft ist immer ein Ergebnis von konkreten Konflikten, in denen Betroffene zu ProtagonistInnen werden.

Indem Migration nicht als Problem angesehen wird und stattdessen soziale Rechte in den Blick kommen, kann über den ungleich verteilten Zugang zu Ressourcen gesprochen werden. Und hier liegt auch der Unterschied zur Vorstellung vom Multikulturellen, das Migration immer nur aus der Distanz betrachtet: einmal negativ als Angstfantasie, einmal positiv im Sinn einer «bunten Bereicherung».

In New York wurde die Idee der Urban Citizenship von Bürgermeister Bill de Blasio institutionalisiert: Anfang 2015 führte die Stadt eine sogenannte Identitätskarte ein, die die Abfrage des Aufenthaltsstatus verhindert. Mit der Karte kann man ein Bankkonto eröffnen, eine (Gemeinde-)Wohnung mieten und andere städtische Dienstleistungen beziehen. Für den Bezug gilt ein Mindestalter von vierzehn Jahren, und es muss ein Identitätsnachweis vorliegen.

Wo bleiben Zürich, Basel, Genf?

In der Stadt New York leben etwa 500 000 Undokumentierte. Zum Vergleich: In der Schweiz wird die Zahl der Sans-Papiers auf 80 000 bis 300 000 geschätzt, davon etwa 20 000 im Grossraum Zürich. Dieses Leben «ohne Papiere» ist unplanbar, der Stress hoch, die Abhängigkeit vom Goodwill der ArbeitgeberInnen teilweise massiv. Das heisst auch, dass die Möglichkeit zur Teilnahme an der Gesellschaft extrem eingeschränkt ist. Durch eine urbane BürgerInnenschaft wird diese Möglichkeit erhöht und eine Grundlage für ein Leben abseits der Unsichtbarkeit geschaffen.

In einigen europäischen Städten – etwa in Rotterdam – findet das Konzept bereits Niederschlag in der Stadtplanung. Auch in Kanada oder in den USA gibt es sogenannte Sanctuary Cities («Städte als Zufluchtsorte»): In diesen Städten ist es PolizistInnen oder städtischen Angestellten untersagt, sich über den Aufenthaltsstatus einer Person zu erkundigen. Richtig spannend wird das Konzept allerdings erst, wenn die StadtbürgerInnenschaft auch mit einem Schutz vor Ausschaffung verbunden wird.

Während bei der Staatsbürgerschaft stets nach dem legalen Status, der Sesshaftigkeit und der Nachweisbarkeit durch Dokumente gefragt wird, geht es bei der Idee der StadtbürgerInnenschaft darum, neue Visionen zu entwickeln, in denen Zugehörigkeit und soziale Rechte auf anderen Kriterien beruhen: etwa dem Wohnort und Lebensmittelpunkt, der Teilhabe an der Gesellschaft und dem Eingebundensein in Communities.

Der Stadtforscher David Harvey formuliert es so: «Das Recht auf Stadt ist nicht einfach das Recht auf Zugang zum bereits Existierenden – sondern das Recht, es nach den eigenen Wünschen zu gestalten.» Warum nicht auch in Zürich, Basel oder Genf?

Katharina Morawek ist Kuratorin und Geschäftsleiterin der Shedhalle Zürich, wo 
im Herbst 2015 «Die ganze Welt in Zürich» stattfinden wird, ein Projekt zum Thema StadtbürgerInnenschaft.