Migration und Gesellschaft: Städte brauchen keine Pässe

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Sie waren wenige, und sie arbeiteten schwer. Solidarität mit Flüchtlingen, Verteidigung der Grundrechte – diese Themen lockten in den letzten Jahren kaum jemanden hinter dem Ofen hervor. Wer sich trotzdem dafür engagierte, war mit Vorteil masochistisch veranlagt: Asylgesetzverschärfungen folgten auf SVP-Initiativen, Niederlage auf Niederlage.

Auf einmal ist es anders. Gruppen wie das Solidaritätsnetz Zürich werden fast überrannt von Leuten, die mitmachen wollen. Vielerorts, wo neue Asylzentren eröffnet werden, stehen schon AnwohnerInnen bereit, um Flüchtlinge zu unterstützen. Immer mehr Leute, «Migrationshintergrund» oder nicht, melden sich zu Wort, weil sie den Stuss der SVP einfach nicht mehr hören können. Eine Bewegung entsteht – gross genug, um aus der Defensive zu kommen.

Vorbotin der neuen Bewegung war im Spätsommer 2015 die Migrationscharta. Damit fordert eine kleine Gruppe von Kirchenleuten offensiv das Recht auf freie Niederlassung für alle. Ende Januar diskutierten ChristInnen in Bern über diese Charta – und vernetzten ihre Tagung mit dem linken Subkulturfestival Tour de Lorraine. Über 500 Leute kamen. Eine Woche später ein Migrationspodium in der St. Galler Grabenhalle: Der Raum ist voll, und das am Samstagabend, zur besten Partyzeit. Und vergangenes Wochenende lud die Zürcher Shedhalle zum Kongress «Wir alle sind Zürich» – wieder über 500 Leute.

Ein Konzept elektrisiert viele: Urban Citizenship. Die Idee ist simpel: Alle, die in einer Stadt leben, sollen Zugang zu den Möglichkeiten haben, die sie bietet – unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus. Alle, auch Sans-Papiers, sollen Spitäler und Schulen, Bibliotheken und Sporthallen nutzen, ihre Arbeitsrechte einklagen, in der Lokalpolitik mitbestimmen und bei der Polizei Schutz suchen können ohne Angst, verhaftet zu werden.

Das ist nicht so utopisch, wie es klingt: In Kanada haben sich mehrere Städte, darunter Toronto und Hamilton, zu «Zufluchtsstädten» erklärt, um genau diese Rechte zu gewährleisten. In New York können alle StadtbewohnerInnen, papierlos oder nicht, seit einem Jahr eine «City ID» beantragen, einen offiziellen städtischen Personalausweis, der beim Abschliessen von Verträgen genauso hilft wie bei einer Polizeikontrolle. Der Druck für die «City ID» kam von oben und unten zugleich: vom populären linksliberalen Bürgermeister Bill de Blasio und von sozialen Bewegungen.

Die USA haben Gemeinsamkeiten mit der Schweiz: Auf nationaler Ebene blockieren die Rechten progressive Ansätze, doch dank Föderalismus ist auf der Ebene der Bundesstaaten (Cannabislegalisierung!) und Gemeinden einiges möglich. Dass es einen kantonalen migrationspolitischen Spielraum gibt, zeigen in der Schweiz die Kantone Genf und Waadt, die in den letzten Jahren einige Hundert Sans-Papiers regularisiert haben. Vieles an Urban Citizenship ist gar nicht so utopisch, das kommunale Stimm- und Wahlrecht für AusländerInnen zum Beispiel, das es bereits in verschiedenen Westschweizer Kantonen gibt. Genauso ist es in der Schweiz praktisch unbestritten, dass Sans-Papiers-Kinder in die Schule dürfen. Hier stösst das Menschenrecht auf Bildung mit dem Aufenthaltsstatus zusammen – und die lokalen Behörden gewichten das Menschenrecht höher.

Falls die Entrechtungsinitiative am 28. Februar durchkommt, würden solche Rechtszusammenstösse zunehmen. «Wir alle sind Zürich» diskutierte Strategien dagegen: Initiativen zu starten, die in Gemeinden und Kantonen explizit festschreiben, dass Menschenrecht und Völkerrecht Vorrang haben. In Gemeinden wäre eine solche Deklaration eher symbolisch, in Kantonen könnte sie dagegen ein echter Weg aus dem Dilemma sein, in das die SVP die RichterInnen stürzt. Genf und Basel-Stadt hätten hier die besten Chancen.

Auf den Wohnort zu setzen, ist eine spannende Strategie. Städte gibt es schon viel länger als Nationen. Um sie zu betreten, braucht es keinen Pass.

«Ist die ‹Refugees welcome›-Bewegung wegen des Sex-Mobs in Köln oder der asylpolitischen Debatten in Europa in der Defensive?», fragte die NZZ kurz vor der Tour de Lorraine. Nein. So schnell haut es eine Bewegung nicht um.