Durch den Monat mit Afra Weidmann (Teil 3): Fällt es Ihnen nicht schwer, Flüchtlinge wegzuschicken?

Nr. 29 –

Noch heute klopfen Flüchtlinge an Afra Weidmanns Haustür. Doch die achtzigjährige ehemalige Asylaktivistin nimmt keine neuen Mandate mehr an. Sie übt das Altsein.

Afra Weidmann wohnt in einem Häuschen an der Limmat: «Ich muss lernen, mir Zeit zu lassen. Nur schon, wenn ich etwas holen will im unteren Stock …»

WOZ: Frau Weidmann, Sie haben sich in den neunziger Jahren bei der Menschenrechtsgruppe Augenauf um immer mehr Flüchtlinge gekümmert. Wie haben Sie sich das nötige Wissen angeeignet?
Afra Weidmann: Ich hatte ja keinen juristischen Hintergrund. Also habe ich das Gesetz studiert. Und wenn ich nicht weiterkam, konnte ich auf Unterstützung von Anwältinnen und Anwälten aus der Zürcher Szene zählen. Irgendwann war ich in Flüchtlingskreisen so bekannt, dass die Hilfesuchenden einfach an meine Tür klopften.

Ist das heute immer noch so?
Es kommt immer noch vor, dass sich jemand bei mir meldet. Doch ist es inzwischen ruhiger geworden. Seit ich siebzig Jahre alt bin, nehme ich keine neuen Mandate mehr an. Aber es gibt Fälle, die werden immer wieder aufgerollt. Diese Mandate kann ich nicht abgeben, niemand ausser mir kennt die Vorgeschichte.

Fällt es Ihnen nicht schwer, die Menschen an Ihrer Tür wegzuschicken?
Anfangs fiel es mir schwer. Aber ich musste irgendwann lernen, Nein zu sagen: «Es tut mir leid, aber ich kann nichts für Sie tun.» Ich verweise die Flüchtlinge an die Freiplatzaktion oder an die Beratungsstelle an der Bertastrasse. Zudem hat ein langjähriger Mandant von mir, den ich 1996 im Gefängnis kennengelernt habe, in Flüchtlingskreisen herumerzählt, dass ich nicht mehr arbeite. Das hilft sehr.

Konnten Sie vielen Flüchtlingen zu einem Bleiberecht verhelfen?
Sehen Sie diesen Stapel da? (Afra Weidmann zeigt auf einen kleinen Aktenstapel.) Das sind die wenigen von mir betreuten Flüchtlinge, die am Ende ausgeschafft wurden. Und diese hier (sie zeigt auf einen dreimal so grossen Aktenberg), diese hier sind verschwunden. Sie haben das Land verlassen, um andernorts einen Asylantrag zu stellen, oder sie sind untergetaucht. All die Dossiers aber, die sich auf den Regalen und auf dem Bett stapeln, konnte ich mit einer Aufnahme abschliessen.

Das ist eine erstaunlich hohe Quote.
Zu mir kamen ja auch nicht die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge. Gegen Ende meiner aktiven Zeit – das war noch vor dem Arabischen Frühling – hatte ich vor allem Mandate von politischen Flüchtlingen aus Tunesien. Ich habe damals etwa 120 Flüchtlinge betreut. Und in sämtlichen dieser Dossiers wurde am Ende positiv entschieden. Schwierig war allerdings, ihre Familien nachzuholen. Wir mussten beweisen, dass der Bruder, die Mutter oder der erwachsene Sohn nach der Flucht ihres Angehörigen in Tunesien bedroht ist. Da brauchte es Tricks und Kniffe. Doch wir haben es in etlichen Fällen geschafft, dass am Schluss die ganze Familie in der Schweiz versammelt war. Erst kürzlich stand einer der Tunesienflüchtlinge mit seinem Vater vor meiner Tür – einfach, um Hallo zu sagen. Das sind die schönen Erlebnisse.

Welche Bilanz ziehen Sie, wenn Sie auf Ihr Engagement zurückblicken?
Ich glaube, ich möchte nicht missen, was ich gemacht habe. Jetzt bin ich vor allem damit beschäftigt, das Altsein zu üben.

Fällt Ihnen das schwer?
Es ist anstrengend. Meine Augen sind schlecht geworden, ich höre nicht mehr gut, und manchmal falle ich einfach um. Das liegt daran, dass mein Blutdruck jahrelang zu hoch war. Anfangs, als ich merkte, wie da ein körperliches Defizit nach dem anderen auftauchte, habe ich mich enorm gewehrt gegen dieses Altsein. Ich war richtig empört, dass ich plötzlich sagen muss: So, ich bin jetzt alt. Heute versuche ich, damit Frieden zu schliessen.

Gelingt es Ihnen?
Ich bin immer noch ein bisschen ungeduldig und will jeden Tag mehr machen, als ich dann abends wirklich gemacht habe.

Sie müssen lernen, langsam zu sein?
Ich muss lernen, mir Zeit zu lassen. Nur schon, wenn ich etwas holen will im unteren Stock … Bis ich einmal unten bin – und dann wieder oben. Früher bin ich einfach herumgelaufen, ohne mir darüber Gedanken zu machen.

Schreiben Sie noch?
Nein. Damit habe ich aufgehört. Mir wird immer wieder gesagt: «Schreib doch eine Biografie.» Aber dafür habe ich keinen Bedarf.

Weshalb nicht?
Ach, wenn ich ein Dossier in die Hand nehme und anfange zu lesen, dann werde ich gleich wieder wütend. Ich hatte lange Zeit die grössten Schwierigkeiten einzuschlafen, weil ich immer so viel an diese Dossiers denken musste. Ich musste von diesen Geschichten etwas Distanz gewinnen. Jetzt habe ich sie – mehr oder weniger.

Ich habe Sie nach dem Schreiben gefragt – und Sie fangen an, von Flüchtlingsdossiers zu reden …
Ja – über etwas anderes könnte ich wohl nicht schreiben. Für mich war das nicht einfach irgendeine Arbeit. Mein eigenes Leben hat sich in diesen Geschichten abgespielt – eigentlich ist das völlig unprofessionell. Doch anders hätte ich das nicht machen können.

Afra Weidmann ist Krankenschwester, Menschenrechtsaktivistin, Dichterin. Sie wuchs in einer Glarner Wirtefamilie auf. Ende Juni hat sie ihren 80. Geburtstag gefeiert. Mit ihrem Alter hat sie noch nicht ganz Frieden geschlossen.