Durch den Monat mit Afra Weidmann (Teil 1): Stammt Ihr soziales Bewusstsein aus dem Wirtshaus?

Nr. 27 –

Afra Weidmann hat viele Leben gelebt: Die Asylaktivistin, die vor kurzem ihren 80. Geburtstag feierte, ist Mitgründerin der Menschenrechtsorganisation Augenauf und war eine der ersten freiwilligen HelferInnen auf dem Platzspitz. Ihr öffentliches Leben begann allerdings erst nach dem Tod ihres Mannes.

Afra Weidmann: «Ich hatte schon als kleines Kind einen starken Gerechtigkeitssinn, war eher widerständig und habe viel gestritten.»

WOZ: Frau Weidmann, Sie sind in einem Gasthaus im Glarnerland aufgewachsen. Was war das für eine Kindheit?
Afra Weidmann: Wir hatten nie eine separate Wohnung, sondern lebten immer innerhalb des Betriebs. Meine Geschwister und ich lernten deshalb als Kinder, mit den unterschiedlichsten Menschen zu kommunizieren. Ohne uns dessen wirklich bewusst zu sein, wechselten wir zwischen den verschiedenen Sprachen unserer Gäste. Bei uns verkehrten alle: Arbeiter aus dem Dorf, Sennen von der Alp, Touristen.

Das klingt, als hätten Sie schon damals einen Sinn für unterschiedliche Lebenswelten entwickelt. Stammt Ihr soziales Bewusstsein also aus dem Wirtshaus?
Zum Teil, ja. Aber ich glaube, dass vieles auch einfach in mir angelegt war. Ich hatte schon als kleines Kind einen starken Gerechtigkeitssinn, war eher widerständig und habe viel gestritten – vor allem mit Lehrern und anderen Erwachsenen um mich herum.

Welche Werte haben Ihnen Ihre Eltern vermittelt?
Mein Vater war zwar nicht Mitglied einer Partei, aber er war Demokrat. Seine Haltung war da immer ganz klar. Ich erinnere mich, dass bei uns während des Zweiten Weltkriegs eine Europakarte an der Wand hing. Vater hat darauf mit Fähnchen den Vormarsch der Alliierten abgesteckt. In unserem Gasthaus auf der Ohrenplatte nahmen wir oft Menschen auf. Da war etwa diese junge Frau, die ein halbes Jahr bei uns lebte – aus gesundheitlichen Gründen. Sie hatte einen Freund, der in der italienischen Widerstandsbewegung war. Und sie konnte sich keinen Aufenthalt in einem Kurhaus leisten.

Was für eine Persönlichkeit war Ihre Mutter?
Meine Mutter war auf ihre Art progressiv: Wenn wir Kinder im Betrieb mithalfen, zahlte sie uns gleich viel wie ihren Angestellten. Und wir konnten das Trinkgeld behalten. Das war alles andere als selbstverständlich für einen Familienbetrieb dieser Zeit. Sie war aber vor allem sehr tatkräftig. Sie hat gekocht und getan und gemacht. Mein Vater war ja vor allem mit der Seilbahn beschäftigt, die er gebaut hatte und betrieb. Beide hatten wenig Zeit für uns. Aber wir hatten langjährige Angestellte. Wenn man etwas brauchte, ging man einfach zum Fineli oder zum Vreni. Wir waren nie eine klassische Kleinfamilie.

Die haben Sie später selbst gegründet.
Ja, mein Mann und ich lebten das total klassische Rollenmodell. Als ich schwanger wurde, wäre es mir nie in den Sinn gekommen weiterzuarbeiten. Ich fand damals: Die Kinder, das ist nun mein neuer Beruf. Und darin bin auch voll aufgegangen.

Wie hatten Sie Ihren Mann kennengelernt?
Während meiner Ausbildung zur Operationsschwester am Spital Glarus. Er war ein Unterhund – so nannten wir die Medizinstudenten damals. In Glarus war damals ja nicht gerade viel los. Also sind wir Schwestern oft mit den Praktikanten ausgegangen – um ein wenig zu feiern. Es wurde ziemlich viel geflirtet. Aber mit meinem Mann, das war anders. Wir haben uns in einer Nacht kennengelernt, als wir beide Pikettdienst hatten. Es gab einen Motorradunfall, und da war dieser Verletzte, der ziemlich betrunken und verwirrt war. Er blutete stark. Es dauerte etwa eine Stunde, das zu stoppen. In dieser Zeit ist zwischen uns etwas passiert, das lange anhalten sollte.

Ihr Mann ist dann mit nur 47 Jahren gestorben.
Er hatte Herzprobleme. Das wusste ich. Aber sonst durfte es niemand wissen: Mein Mann hatte Angst vor beruflichen Nachteilen. Das war schwierig für mich: so zu tun, als ob nichts wäre. Und plötzlich brach er über Mittag vor einem Schaufenster zusammen und war sofort tot.

Sie haben damals zu schreiben begonnen?
Ja. Ich glaube, ich wollte meine innere Leere beschreiben.

Lesen Sie mir ein Gedicht aus dieser Zeit vor?
Da muss ich meine Lesebrille holen. (Afra Weidmann hievt sich aus dem Sessel hoch. Wieder auf ihrem Platz, scrollt sie mit konzentriertem Blick durch ihre Computerdateien.) Hier habe ich ein paar ganz frühe Gedichte. Eines ging so: «Bleiben. Immer weiter bleiben. Tun. Aber was? Und wozu? Und wie lange noch? Wie lange noch so? Immer tun, als ob es ginge. Wo es längstens nicht mehr geht.»

Sie wollten damals nicht mehr leben?
Dieses Gefühl hatte ich damals wirklich. Vorher, in meiner Ehe, lebte ich ziemlich planmässig. Und nun war da plötzlich diese Leere. Aber ich hatte meine beiden Buben, die ich nicht hocken lassen konnte. Also sagte ich mir: Du bleibst, bis sie selbstständig sind. Ich musste mir das Vorhandenbleiben wie eine Übergangszeit vorstellen. Als Zeitblöcke, an denen ich mich festhalten konnte.

Und dann ging es doch irgendwie weiter?
Nach dem Tod meines Mannes lag ich erst einmal ziemlich «verscherbelet» am Boden. Doch irgendwann begann ich, Dinge zu sehen, die ich vorher einfach nicht wahrgenommen hatte. Und während ich doch eigentlich nur provisorisch da war, bekam ich plötzlich wieder Lust zu leben.

Während der Achtzigerunruhen war Afra Weidmann, Jahrgang 1935, Mutter und Hausfrau in Schlieren. Dann geriet sie mitten in den Drogenkrieg um den Platzspitz und den Letten.