Durch den Monat mit Afra Weidmann: Hat Sie der Platzspitz politisiert?

Nr. 28 –

Afra Weidmann eröffnete der Zürcher Platzspitz einen Blick unter den Teppich der Gesellschaft. Über ihre Begegnungen mit den Süchtigen schrieb sie einen viel beachteten Gedichtband. Doch anstatt eine schriftstellerische Laufbahn einzuschlagen, gründete sie eine Menschenrechtsorganisation.

Afra Weidmann: «Auf die Strasse getrieben haben uns damals die Gewalt und die Repression gegen die ­Süchtigen.»

WOZ: Frau Weidmann, Sie haben sich Ende der achtziger Jahre als eine der Freiwilligen auf dem Platzspitz engagiert. Wie ist es dazu gekommen?
Afra Weidmann: Ich arbeitete damals als Krankenschwester in der Dermatologischen Poliklinik. Mein Mann war ja kurz zuvor verstorben, und ich brauchte Beschäftigung, um aus meiner Trauer rauszukommen. Irgendwann haben wir Spitalangestellten einen Brief des Roten Kreuzes erhalten. Die suchten Freiwillige für das Interventionspilotprojekt Zipp.

Und Sie haben sich sofort gemeldet?
Im Gegenteil. Ich war damals Teil der Gruppe für gesunde Gesundheitspolitik. Wir setzten uns für kürzere Arbeitszeiten und bessere Löhne in der Pflege ein. Und nun wollte uns das Rote Kreuz noch zumuten, freiwillig zu arbeiten. Da war ich erst einmal sauer. Ich ging sogar mit einer Freundin an die Informationsveranstaltung, um zu protestieren.

Was hat Sie umgestimmt?
Mein älterer Sohn hat mir einen Schupf gegeben. «Probier das doch einmal aus», sagt er zu mir. Ich habe auf ihn gehört. Später wurde ich dann Mitglied der Arbeitsgruppe Platzspitz. Wir kochten jeden Mittag mit den Süchtigen. Aus diesem Engagement wurde eine intensive politische Arbeit.

Hat Sie der Platzspitz also politisiert?
Ich war schon vorher ein politischer Mensch, aber nie aktiv. Der Platzspitz hat mir einen Blick unter den Teppich unserer Gesellschaft eröffnet. Ich nahm damals zum ersten Mal in meinem Leben an Demonstrationen teil. Auf die Strasse getrieben haben uns die Gewalt und die Repression gegen die Süchtigen.

Sie haben damals exzessiv geschrieben. Was beschäftigte Sie?
In meinen Gedichten ging es vor allem um Begegnungen. Bei den Menschen, die ich damals auf dem Platzspitz traf, war der Tod immer präsent. Jede erste Begegnung hätte auch die letzte sein können. Diese Unmittelbarkeit hat mich sehr beschäftigt.

Dachten Sie beim Schreiben bereits an eine Publikation?
Nein. Ich habe lange nur für mich geschrieben: immer wenn ich von meiner Arbeit am Platzspitz nach Hause kam. Nur wenige wussten davon. Doch eines Tages kam die Literatin Bea Schilling auf mich zu. Sie lud mich ein, bei einer politischen Veranstaltung zu lesen. Neben mir und Schilling traten auch Manfred Züfle und Isolde Schaad auf. Ich weiss noch, wie ich dachte: «Läck, das sind ja richtige Schriftsteller.» Als ich dann meinen Text gelesen hatte, wurde es mucksmäuschenstill im Saal. Und dann: riesiger Applaus.

Der Limmat-Verlag hat dann gleich eine Auswahl Ihrer Platzspitz-Gedichte veröffentlicht.
Ich sage oft: Mir fiel damals ein Apfel in den Schoss, und ich habe gar nicht gemerkt, dass ich unter einem Apfelbaum sass. Während das Buch verlegt wurde, habe ich immer weitergeschrieben. Und in dieser Stimmung des Drogenkriegs hat mein Büchlein dann einfach eingeschlagen. Dennoch nahm ich mich damals nicht als schreibende Existenz wahr.

Sie haben in dieser Zeit Augenauf mitgegründet – eine Organisation, die sich heute vor allem asylpolitisch engagiert. Wie kam es dazu?
Es begann kurz vor der Schliessung des Letten, wo die Situation für die Süchtigen noch brutaler war als zuvor auf dem Platzspitz. Die Polizeigewalt war sehr sichtbar – aber niemand hat das dokumentiert. Mit einer kleinen Gruppe habe ich damals begonnen, Arbeitsspaziergänge zu machen. Wenn wir einen Vorfall beobachteten, notierten wir uns die Kennzeichen der Polizeiautos. Und wir hielten genau fest, was sich abspielte.

Kam es damals zu Anzeigen gegen Polizisten?
Zu einigen, ja. Reichte jemand Anzeige ein, halfen wir den Betroffenen mit unserem Material und vermittelten Anwältinnen und Anwälte. In seltenen Fällen haben wir auch gewonnen.

Später haben Sie Hunderte Mandate von Asylbewerbern übernommen.
Ja. Begonnen hat das mit der Einführung der Zwangsmassnahmen. Seit 1995 kann man in der Schweiz Flüchtlinge in Vorbereitungs- und Ausschaffungshaft stecken. Unter dem Deckmantel des Drogenkriegs war es damals ein Leichtes, dieses Gesetz zu missbrauchen. Viele Flüchtlinge wurden gar nicht mehr auf Schweizer Boden gelassen, um ein Asylgesuch zu stellen. Stattdessen hielt man sie einfach im Transitbereich des Flughafens fest, wo zu der Zeit die Ausschaffungsgefängnisse entstanden. Man brauchte bloss zu behaupten, die Flüchtlinge seien zum Dealen in die Schweiz gekommen.

Wie konnten Sie diese Menschen treffen?
Der Flughafen war für uns lange ein schwarzes Loch. Irgendwann aber begann sich das Rote Kreuz dort zu engagieren. Eine Bekannte, die dort mitarbeitete, verschaffte mir Zugang zum Transitbereich. Sie verteilte Vollmachten an die Flüchtlinge, die diese dann mit meinem Namen ausfüllten. Ich war damals bereits pensioniert. Meine Ressource bei Augenauf war also die Zeit. Und Flüchtlingsmandate zu übernehmen, das braucht viel Zeit.

Afra Weidmanns Gedichtband «Rondell» erschien 1990 im Limmat-Verlag. Seither hat Weidmann nichts mehr publiziert – aber immer weitergeschrieben. Der Limmat-Verlag entscheidet gerade über die Herausgabe weiterer Gedichte.