Medientagebuch über deutsche Medien in der Flüchtlingskrise: Mal wieder Weltmeister

Nr. 38 –

Anna Jikhareva über deutsche Medien in der Flüchtlingskrise

Selten in der jüngeren Zeit war das Kollektivgefühl in Deutschland so ausgeprägt wie während der Fussballweltmeisterschaft 2006. Ausgelassen feiernde BürgerInnen zogen mit BesucherInnen aus aller Welt durch die Fussgängerzonen – getreu dem offiziellen Motto von damals weilte die Welt «zu Gast bei Freunden». Dieser Tage wird Deutschland erneut von einer Welle der Euphorie erfasst. Von «Septembermärchen» ist die Rede. Doch diesmal steht statt des Fussballs die Solidarität mit Flüchtlingen im Zentrum. Fast schon wie im Rausch feiert das ganze Land seine Willkommenskultur. Die Fotos bunter Fanmeilen von 2006 sind Bildern jubelnder HelferInnen von 2015 gewichen, die erschöpfte Flüchtlinge am Bahnhof empfangen.

Befremdlich wirkt nicht die überbordende Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. Diese ist real. Sie ist auch – nicht zuletzt angesichts des behördlichen Versagens – gut und unerlässlich. Merkwürdig wirkt allerdings, wenn die Solidarität in ein Gefühl mündet, das man schon Hilfsbesoffenheit nennen kann.

Eine zentrale Rolle spielen dabei die Medien. In fröhlichem Einklang haben sie mit ihrer Berichterstattung das Kollektivgefühl miterschaffen – und verstärken es nun. Die «Bild»-Zeitung etwa – ein Blatt, das früher vor allem Ressentiments gegen Flüchtlinge kolportierte – bringt eine Flüchtlingssondernummer in arabischer Sprache heraus!

Dass der Boulevard so auf Emotionen setzt, mag nicht erstaunen, aber auch viele andere Medien stimmen in den Solidaritätskanon mit ein. Geprägt sind die Berichte oftmals von einem so pathetischen wie staatstragenden Ton. Und just beim Umgang mit der Problematik von Grenzen wird ein neues Nationalgefühl konstruiert. «Die deutsche Hilfsbereitschaft kann Europa verändern», schreibt die rechtskonservative «Welt». «Die ganze Welt feiert uns Deutsche», jubelt «Bild». Die Freude darüber, dass der «hässliche Deutsche», der vor wenigen Wochen noch Brandsätze in Asylheime warf, aus den internationalen Schlagzeilen verschwunden ist, lässt sich mit Händen greifen. Auch ein Doppelcover des «Spiegels» von Ende August illustrierte dies: neben dem «dunklen Deutschland» mit einem brennenden Asylzentrum das «helle Deutschland» mit bunten Luftballons.

Dass gerade Deutschland zum beliebtesten Zielland der Flüchtlinge geworden ist, lässt einen Teil der Presse in einen Freudentaumel verfallen. «Sie meinen uns!», schrieb die «Zeit» vor zwei Wochen. Das Leitblatt des Bildungsbürgertums konnte das deutsche Glück angesichts dieser Wertschätzung kaum fassen. Und – nicht weniger pathetisch – konstatierte wiederum die «Welt»: «Für Millionen hat der Traum einen Namen: Deutschland. (…) Wir, die wir in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, müssen uns mit dem Gedanken vertraut machen, dass wir in einem Traumland leben. Wenn so viele kommen wollen, können wir nicht alles falsch gemacht haben.»

Kaum zu überbieten an Pathos war denn auch eine Solidaritätsgala des ZDF mit dem Titel «Auf der Flucht – Deutschland hilft» von vergangener Woche. Die TV-Show, untermalt von Klavierklängen, dient als Beispiel für ein weiteres Medienphänomen: den Paternalismus. Hilfsbereite Deutsche schmieren Butterbrote und reichen Wärmedecken. Bedürftige Flüchtlinge recken dankbar Bilder von Angela Merkel in die Luft und benennen Neugeborene nach der Kanzlerin. Der Medienjournalist Arno Frank sprach in diesem Zusammenhang auf «Spiegel Online» treffend von «Verteddybärisierung».

Anna Jikhareva ist WOZ-Redaktorin und ist in Deutschland aufgewachsen.