Ausschaffungen nach Ungarn: Sommarugas mangelnder Wille
Die Situation für Flüchtlinge in Ungarn spitzt sich dramatisch zu. Menschenrechtsorganisationen schlagen Alarm. Während Österreich Ausschaffungen nach Ungarn aussetzt, tut die Schweiz, als wäre nichts geschehen.
Der Bund hält weiterhin an seiner Praxis fest, Asylsuchende nach Ungarn auszuschaffen. Seit Anfang Jahr hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) 65 Menschen dorthin «überstellt», zuletzt drei Personen im August. Gemäss der aktuellsten SEM-Asylstatistik sind in Absprache mit Ungarn weitere 478 Ausschaffungen vorgesehen, von denen mehrheitlich Roma betroffen wären.
«Dublin ist geltendes Recht», sagt das SEM auf Anfrage. Mit diesem «Recht» meinen die zuständigen Behörden die umstrittene Verordnung, dass ein Flüchtling in jenem EU-Staat einen Asylantrag stellen muss, den er als ersten betreten hat. Nur in Einzelfällen, «beispielsweise aus familiären oder gesundheitlichen Gründen», wird laut dem SEM auf eine Dublin-Überstellung verzichtet. Anlass zu einer Praxisänderung bestehe zurzeit nicht, da generell davon auszugehen sei, «dass die europäischen Vertragsstaaten die Vorschriften der völkerrechtlichen Konventionen und der europäischen Richtlinien einhalten und adäquate Massnahmen für Aufnahme und Asylverfahren treffen», schreibt das SEM.
«Lebensgefährliches Chaos»
Auch das Aussendepartement (EDA) stützt diese Einschätzung: «Die Schweiz geht davon aus, dass die einschlägigen rechtlichen Rahmenbedingungen allen Dublin-Staaten bekannt sind, und erwartet, dass diese respektiert werden.» Man verfolge die Lage kontinuierlich und stehe «in regelmässigem Kontakt mit den ungarischen Behörden», beteuern SEM und EDA unisono.
Ungarn ist in den letzten Wochen zum Brennpunkt der europäischen Flüchtlingskrise geworden. Nach Bewältigen der Route Türkei–Griechenland–Mazedonien–Serbien haben seit Anfang des Jahres 160 000 Menschen einen Asylantrag im mitteleuropäischen Land gestellt. 2014 lagen noch 42 000 Anträge vor.
Die rechtsnationalistische Regierung von Ministerpräsident Viktor Orban nutzte diesen Anstieg von Asylgesuchen, um ihre völkisch geprägte Abschreckungspolitik auf die Spitze zu treiben: Der in kürzester Zeit erstellte, 175 Kilometer lange Grenzzaun kostete weit über 90 Millionen Euro. Demgegenüber steht gemäss der Menschenrechtsorganisation Hungarian Helsinki Committee das Budget der nationalen Migrationsbehörde von 7,9 Millionen Euro.
Zugleich verschärfte die Orban-Regierung die Asylgesetze auf europaweit beispiellose Weise: So gelten in Ungarn seit August Serbien, Mazedonien und Griechenland als sichere Herkunftsländer – entgegen den Richtlinien des Uno-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR, an die sich alle anderen Dublin-Staaten halten.
Letzte Woche traten in Ungarn zudem mehrere Notstandsgesetze in Kraft: Asylanträge können nur noch an wenigen Grenzübergängen gestellt werden, das Verfahren dauert maximal zehn Tage; während dieser Zeit sind die Flüchtlinge in einem sechzig Meter breiten Streifen an der Grenze interniert. Wer die Grenze nicht an einem «offiziellen» Übergang passiert, gilt als «illegaler Eindringling» und kann dafür bis zu vier Jahre ins Gefängnis gesperrt werden.
Angesichts dieser Entwicklungen hat Amnesty International bereits vor Tagen vor einem «lebensgefährlichen Chaos» für Flüchtlinge in Ungarn gewarnt. Auch das Hungarian Helsinki Committee liess in seiner Beurteilung der aktuellen Lage keine Zweifel offen: «Die neuen Regeln verwehren den Flüchtlingen Schutz und führen zu noch nie da gewesenen Menschenrechtsverletzungen.» Ausserdem meldet die offizielle Partnerorganisation des UNHCR gegenüber der WOZ, dass die Empfangszentren für Asylsuchende in Ungarn mit einer Auslastung von über 200 Prozent komplett überbelegt seien. Ausserdem liege der Anteil an positiven Asylgesuchsentscheiden mit 9 Prozent (2014) massiv unter dem europäischen Durchschnitt von 45 Prozent.
Entsprechend eindringlich kritisiert Amnesty International die Schweiz für ihre Praxis, Asylsuchende nach Ungarn auszuschaffen. Neu verlangt auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) ein Umdenken: «Wir fordern eine vorübergehende Aussetzung von Dublin-Überstellungen nach Ungarn», sagt Constantin Hruschka von der SFH-Geschäftsleitung. Er sehe Parallelen zur Situation in Griechenland in den Jahren 2008 und 2009: «Das Asylsystem in Ungarn ist überfordert. Das Land kann seinen Verpflichtungen aktuell nicht nachkommen, die Flüchtlinge haben dort keine faire Chance auf effektiven und zeitnahen Schutz.»
Keine Lehren gezogen
Die Schweizer Behörden scheinen keine Lehren aus dem Fall Griechenland gezogen zu haben. Auch dort lagen schon lange besorgniserregende Berichte von Menschenrechtsorganisationen vor, auch dort war allen Dublin-Staaten klar, dass die europäischen Asylrichtlinien nicht einmal ansatzweise gewährleistet sind. Doch erst nach Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg sowie des Bundesverwaltungsgerichts verzichtete das SEM auf Ausschaffungen nach Griechenland. Solange die Gerichte keinen Druck ausüben, ist die Politik – namentlich die zuständige Justizministerin Simonetta Sommaruga (SP) – offensichtlich nicht willens zu handeln. Dabei wäre Handlungsspielraum vorhanden: Die Dublin-Resolution umfasst ein Selbsteintrittsrecht, das es den einzelnen Staaten erlaubt, einen Asylantrag selbst zu bearbeiten, auch wenn bereits eine Registrierung in einem anderen Dublin-Staat vorliegt.
Mit Österreich gibt es übrigens ein Land, das seit letzter Woche Ausschaffungen von Asylsuchenden nach Ungarn de facto ausgesetzt hat, wie das Innenministerium auf Anfrage bestätigt. Bezeichnenderweise war es nicht die Politik, die diesen Entscheid getroffen hat, sondern der österreichische Verwaltungsgerichtshof, die höchste Instanz unseres Nachbarlands.