Feminismus: Die braven Jahre sind vorbei

Nr. 39 –

Der Frauenanteil in der Politik stagniert seit Jahren. Es zeigt sich: Gleichstellung ist kein Selbstläufer, sondern muss erkämpft werden. Eine Begegnung mit drei jungen Politikerinnen, die sich nicht mit ein paar Kitaplätzen mehr zufriedengeben.

Kurzer Fototreff beim Bahnhof Olten, mitten im Wahlkampf: Sibel Arslan aus Basel, Mattea Meyer aus Zürich und Rahel Ruch aus Bern (von links nach rechts).

Mattea Meyer kommt gerade von einem Podium und ist deswegen etwas zu spät am Treffen im Zürcher «El Lokal». Die 27-Jährige kandidiert auf dem vierten Listenplatz der SP Zürich für den Nationalrat und ist im Wahlkampfstress. Nach dem Gespräch muss sie direkt nach Bern.

Also gleich zur Sache: «Neulich wurde ich beim Flyerverteilen von einem Mann angesprochen. ‹Gut, dass du da stehst›, sagte er. ‹In echt bist du nämlich hübscher.› Hätte sich ein junger Mann eine solche Bemerkung gefallen lassen müssen? Natürlich nicht», sagt Meyer. Und als Juso-Mitglieder für eine Kampagne gegen den Sparzwang nackt posierten, sei sie von SVP-Kollegen aus dem Kantonsrat gefragt worden, wann sie auch von ihr solche Bilder sehen könnten. «Ich war so baff, dass ich nicht reagierte. Eigentlich hätte ich ihnen sagen sollen, dass ihre Aussagen sexistisch und unangebracht sind.»

Hürden: Milizsystem, Medien

Nachdem der Frauenanteil in der Politik bis in die neunziger Jahre stetig gestiegen war, stagniert er seit einigen Jahren – im Bundeshaus ebenso wie auf Kantons- und Gemeindeebene. Im nationalen Parlament liegt er derzeit bei 31 Prozent. «Die Parteien dachten, die Gleichstellung entwickle sich zum Selbstläufer», sagt Fabrizio Gilardi, Politikwissenschaftler an der Universität Zürich. Dem war nicht so. «Als Kandidatinnen haben Frauen zwar dieselben Wahlchancen wie Männer», sagt Gilardi. Nur liessen sich Frauen weniger häufig aufstellen. Einerseits, weil das Milizsystem es fast unmöglich macht, Familie, Beruf und Politik unter einen Hut zu bringen. Andererseits, weil vielen Frauen die mediale Personalisierung zuwider sei.

Die SP hat im Vergelcih zu den bürgerlichen Parteien mit knapp fünfzig Prozent einen fast ausgeglichenen Frauenanteil. Doch das Thema Geschlechtergerechtigkeit blieb der parteiinternen Gruppierung SP Frauen überlassen, die vor allem aus älteren Mitgliedern bestand. Jüngere Parlamentarierinnen wie Evi Allemann oder Chantal Galladé, die 2003 in den Nationalrat gewählt wurden, forderten zwar bezahlbare Krippenplätze; grundsätzliche Fragen der Geschlechtergerechtigkeit stellten sie aber nicht.

Meyer hingegen, die heute die jüngste Generation der Politikerinnen in der SP verkörpert, ist im Gegensatz zu ihren direkten Vorgängerinnen radikal links und radikal feministisch. «Mich hat es wütend gemacht, dass Frauen in unserer Gesellschaft immer noch Menschen zweiter Klasse sind», erklärt Meyer, warum sie in die Politik ging. 2005 trat sie der Juso bei und gehörte zu jener Generation, die die Juso links ihrer Mutterpartei zu positionieren begann. «In unserem neoliberalen System ist eine geschlechtergerechte Gesellschaft nicht möglich. In der Juso waren wir uns dessen bewusst.» Feministische Kritik sei immer auch Kapitalismuskritik, sagt Meyer.

Gemeinsam mit Juso-Genossen mischten Frauen wie Meyer oder die damalige Berner Stadtparlamentarierin Tanja Walliser die SP in Fragen der Gleichstellungspolitik auf: Vor fünf Jahren forderten sie in einem Positionspapier die Abschaffung der SP Frauen. «Wir waren der Meinung, dass die Gleichstellung ins Zentrum der SP-Politik gehört und Männer sich genauso dafür einsetzen müssen.»

Damals war Meyer Vizepräsidentin der Juso Schweiz und überlegte sich nach Cédric Wermuths Abgang, ob sie das Präsidium übernehmen solle. Weil sie damals aber tief im Geografiestudium steckte und sich mehr in der SP zu engagieren begann, entschied sie sich dagegen. Stattdessen rutschte sie 2010 in den Winterthurer Gemeinderat nach, kam ein Jahr später in den Kantonsrat – und im Mai 2015 wurde sie von den Delegierten auf den vierten Listenplatz hinter drei Bisherige gewählt.

Endlich Fortschritte in der Juso

«Als ich das Amt als Juso-Präsidentin ablehnte, hörte ich von vielen Seiten, dass ich für das Amt kandidieren müsse, wenn ich mich für Gleichstellung einsetzen wollte. So nach dem Motto: ‹Wenn du nicht willst, können wir auch nichts machen.› Das ist fatal, denn so schiebt man die ganze Verantwortung für Geschlechtergerechtigkeit auf einzelne Frauen ab.» Wolle man wirkliche Gleichstellung, müssten die Männer auch bereit sein, die eigenen Machtstrukturen zu hinterfragen: «Die Juso-Männer damals waren Kollegen, gingen zusammen essen, Bier trinken und schmiedeten politische Projekte. Wir Frauen wurden damit häufig ausgeschlossen und vor Tatsachen gesetzt. Das war nicht böse gemeint – nur war es etwas unsensibel.»

Immerhin macht die Juso mittlerweile einiges für die Gleichstellung. Sie führt in Sitzungen Genderprotokolle, in denen festgehalten wird, wie viel Redezeit Männer und Frauen beanspruchen. Bei den Neumitgliedern sind heute mehr Frauen dabei, und als Nächstes wird hoffentlich eine Frau das Präsidium übernehmen. Das sollte auch die SP interessieren, schliesslich kommt ihr Nachwuchs schon länger fast ausschliesslich aus der Juso.

Wo bleibt der linke Feminismus?

Die 29-jährige Rahel Ruch vom Grünen Bündnis steht auf der Schützenmatte in Bern. Die Feministin war schon als Teenager politisch aktiv: 2003 organisierte sie mit der Gruppe «Jugend gegen Krieg» eine Demonstration gegen den Irakkrieg und half, die Frauendemo gegen die Wahl von Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat auf die Beine zu stellen. Sie stieg bei der Juso ein, wechselte aber schnell zur Jungen Alternativen, für die sie von 2009 bis 2012 im Berner Stadtparlament sass, und arbeitete fünf Jahre lang bei der GSoA. Heute arbeitet sie als Koordinatorin der Konzernverantwortungsinitiative und politisiert beim Grünen Bündnis. «Parlamentarische Arbeit ist wichtig», sagt sie. «Aber nur, wenn man sie mit Aktionen ausserhalb des Parlaments verbindet.»

Entscheidend seien Vorbilder, sagt Ruch über Frauenförderung in der Politik: «Bei Männern funktionieren die Netzwerke zur Förderung von Jüngeren viel selbstverständlicher.» Frauen müssten sich genauso dafür einsetzen, Frauen aktiv zu fördern. Vielleicht haben die Grünen deswegen den höchsten Frauenanteil im nationalen Parlament: Sie achten nicht nur auf Frauenquoten auf Wahllisten, seit 2009 betreiben sie auch ein Mentoringprogramm, in dem ältere Politikerinnen die Jüngeren unter ihre Fittiche nehmen. «Eine Generation vor mir gab es schon eine Reihe grüner Frauen wie Corinne Schärer oder Franziska Teuscher, denen bewusst war, wie wichtig die Förderung junger Frauen in der Politik ist», sagt Ruch.

Der Frauenanteil in der Politik stagniert. Zugleich hat sich die Gleichstellungspolitik in den letzten Jahren zudem weitgehend auf praktische Reformen in der Arbeitswelt oder in der Familienpolitik beschränkt. «Natürlich ist es gut, wenn man sich für mehr Kitaplätze einsetzt», sagt Ruch. «Aber wo bleibt das linke feministische Projekt, das die Geschlechterrollen hinterfragt? Mädchen spielen mit Puppen, Jungs mit Lego. Und eine Nationalrätin wie Aline Trede muss sich die Frage gefallen lassen, ob sie genug arbeite, wenn sie abends beim Bier sitzt.» An Politikerinnen hat die Gesellschaft andere Erwartungen: Frauen müssen mehr leisten und über ihre Dossiers besser Bescheid wissen, damit sie von KollegInnen ernst genommen werden.

«Learning by Doing»

Wer ein Beispiel für vorbildliche Frauenförderung in einer Partei sucht, muss nach Basel schauen. Bei BastA!, wie die alternative Liste in Basel heisst, sind die Mehrheit der Mitglieder Frauen. Das Kopräsidium wird von zwei Frauen geführt, die Sekretärin ist eine Frau, und auf der gemeinsamen Nationalratsliste vom Bündnis Grüne/BastA! sind vier von fünf KandidatInnen Frauen.

Eine davon ist die Juristin Sibel Arslan. Mit 34 Jahren ist die Grossrätin aus Basel-Stadt bereits eine erfahrene Politikerin. 2004, direkt nach ihrer Einbürgerung, kandidierte sie für den Grossen Rat. «Während meiner Gymnasialzeit wollte ich in politischen Fragen mitdiskutieren und mitbestimmen», sagt sie. «Aber ich konnte ja nicht, weil ich keinen Schweizer Pass hatte und so auch die Abstimmungsunterlagen nicht erhalten hatte.»

Nach ihrer Einbürgerung wollte Sibel Arslan – «Learning by Doing» – etwas über das politische System der Schweiz lernen. «Ich habe mich bei BastA! gemeldet und gesagt, dass ich für den Grossen Rat kandidieren will», erzählt sie beim Kaffee in der Nähe des Basler Barfüsserplatzes. Und dann wurde sie prompt gewählt. «Ich war in Kleinbasel sehr gut vernetzt. Hinzu kam, noch dass ich als Frau und mit meinem kurdischen Hintergrund viele BastA!-Wähler ansprach. Trotzdem war ich sprachlos, als ich das Ergebnis erfuhr.»

Seither kämpft Arslan als Politikerin gegen soziale Ungleichheit, für die Rechte von MigrantInnen und generell für Gleichstellung in der gesamten Gesellschaft. «Heute bestimmen zwei Drittel der Schweizer Bevölkerung über die anderen, die kein politisches Mitspracherecht haben, obwohl sie genauso hier leben. Die Migranten sind heute in der gleichen Situation wie die Frauen vor der Einführung des Frauenstimmrechts», sagt Arslan. «Man fordert von Migranten, dass sie sich integrieren und einbringen – und von Frauen, dass sie politisch und beruflich aktiv sind. Zugleich schaffen wir es nicht, dafür die nötigen Voraussetzungen zu schaffen.»

Kampagne gegen Arslan

Vor ein paar Monaten, gerade als sie im Grossen Rat durchsetzte, dass MigrantInnen im ersten Jahr kostenlos einen Sprachkurs besuchen können, startete die «Basler Zeitung» («BaZ») eine Kampagne gegen Arslan, weil – bevor sie ihre Stelle als Leiterin des Baselbieter Straf- und Massnahmenvollzugs antrat – Betreibungen gegen sie gelaufen waren. Es war eine von vielen Hetzkampagnen, die die «BaZ» seit Jahren gegen linke PolitikerInnen fährt. «Die ‹BaZ› will die Leute einschüchtern. Alle, die links, jung, Frauen sind oder einen Migrationshintergrund haben, sollen es gar nicht mehr wagen, in die Politik zu gehen», sagt Arslan. «Gegen solche Angriffe müssen wir uns wehren.»

Arslan liess sich nicht aus der Bahn werfen. Jetzt will sie ihren Kampf für die Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen im Nationalrat weiterführen. «Es reicht nicht, nur die Gesetze zu ändern. Wir müssen sie auch umsetzen.»