Medientagebuch: Die Ignoranz abwetzen
Lotta Suter über Selbstzweifel im Journalismus
Dem Medientagebuch darf ich es anvertrauen: Journalistische Zweifel hatte ich von allem Anfang an. Oder sie kamen gleich, nachdem die Euphorie über meinen ersten veröffentlichten Text verflogen war. Ehrlich, wer interessierte sich in der Regionalzeitung schon für meine Ausführungen über ökologische Abwasseranlagen? Niemand ausser meiner Grossmutter, für die das geschriebene Wort, gerade weil sie selber kaum lesen konnte, hoch und heilig war.
Ich habe den Wert der Öffentlichkeitsarbeit weiterhin infrage gestellt, etwa wenn der Publizistikprofessor vorne mit hehren Worten die Presse als «vierte Gewalt im Staate» beschwor. Oder wenn wir StudentInnen nächtelang revolutionäre, aber potthässliche Flugblätter verfassten. Wenn wir RedaktorInnen ums wirtschaftliche Überleben der jungen WOZ kämpften und zu diesem Zweck mitten im Einkaufstrubel mit wenig Erfolg unsere Zeitung feilboten. Ich hegte auch Selbstzweifel, wenn ich die Gutenachtgeschichte der Kinder abkürzte, weil ich am selben Abend noch einen Artikel über Gleichberechtigung fertig schreiben wollte. Und dabei nie sicher war, was mediale Aufklärung überhaupt leisten kann.
Es stimmt doch: Wir linken JournalistInnen stellen uns mit guten Argumenten gegen bewaffnete Konflikte. Schreiben mit Witz und Wut gegen kleinliche Sozialpolitik an. Kritisieren die Fremdenfeindlichkeit bei gleichzeitig ungehemmter globalisierter Profitgier. Und dann überrollen uns die Kriege, immer wieder. Die Asylverfahren verschärfen sich laufend. Die Sozialwerke stehen unter Dauerbeschuss. Die demokratiefeindlichen «Freihandelsabkommen» mehren sich … Das sind so Nachtgedanken, die kommen – und auch wieder gehen, sonst wäre man bei einer WOZ längst nicht mehr dabei.
Eine direkte Kausalität zwischen Aufklärung und politischer Aktion hat unsereins nie erhofft und erwartet. Linke Medienarbeit erteilt keine militärischen Marschbefehle. Wer sich für eine unabhängige freie Presse starkmacht, muss auch ein Publikum zulassen, das Medien frei rezipiert und unabhängige Schlüsse zieht. Und ertragen können – auch angesichts verheerender Auswirkungen –, wenn MedienkonsumentInnen politisch passiv bleiben oder nicht genehme Medieninhalte vollständig ignorieren.
Mit diesem Widerspruch haderte ich, auch weil ich Familie und Freunde in den USA habe, anlässlich der neusten Schulschiesserei im Bundesstaat Oregon. Wie nach jedem Amoklauf wurden in den US-Medien auch jetzt wieder Studien zitiert, die klar belegen: Je mehr Gewehre im Umlauf sind, desto mehr Menschen werden erschossen. Je strikter die Waffenkontrolle, desto weniger Tote durch Schusswaffengebrauch. Nicht beruflicher Stress oder die Zahl von ImmigrantInnen und psychisch Kranken beeinflusst direkt die Mordrate, sondern die leichte Verfügbarkeit von Waffen. Tatsache ist auch: Die Gewaltkriminalität und die Zahl der Gewehre in den USA nehmen seit Jahrzehnten parallel ab. Trotzdem wächst die Zahl der US-BürgerInnen, die sich gegen eine schärfere Waffenkontrolle aussprechen. Sechs von zehn weissen US-AmerikanerInnen, vor allem ältere weisse Männer, fühlen sich mit der Waffe in der Hand einfach sicherer.
Was können wir JournalistInnen tun gegen solche Realitätsresistenz? Weitermachen mit der Aufklärungsgeschichte, allen Zweifeln zum Trotz. So unbeirrt die Berge aus Ignoranz abtragen wie das Vögelchen im Grimm-Märchen die Ewigkeit abwetzt.
Lotta Suter gehörte zu den GründerInnen der WOZ und arbeitete danach viele Jahre als Journalistin in den USA.