Suat Karavus und die Türkei: «Wir können uns nur zusammen retten»

Nr. 42 –

Die Selbstmordanschläge auf eine Friedensdemonstration in der Türkei haben das Land erschüttert. Wie blickt ein hier lebender Türke auf seine Heimat? Ein Besuch beim Aargauer SP-Politiker und Demokratieaktivisten Suat Karavus.

Angst vor einem Bürgerkrieg in der Türkei: Suat Karavus bei der Mahnwache vor dem Ensi.

Suat Karavus sieht mit seinem Dreitagebart und der Strickmütze aus wie der gemütliche aus der Türkei stammende Kommissar in deutschen Krimiserien. Es ist kurz vor sechs Uhr abends. Wie fast jeden Tag um diese Zeit hält Karavus Mahnwache vor dem Gebäude des Nuklearinspektorats (Ensi). Vor einem Jahr hat sich der SP-Politiker den AktivistInnen angeschlossen, die seit der atomaren Katastrophe in Fukushima hier in Windisch (Brugg) demonstrieren.

Heute ist ausser Karavus bloss noch jemand gekommen. Zwei Männer mit ihren Fahnen – und viel Zeit zum Reden. Es dreht sich bei den Treffen längst nicht mehr nur um Atomenergie. Zwei Tage nach den Bombenanschlägen auf eine Friedensdemonstration in Ankara, bei denen fast hundert Menschen ums Leben kamen, ist die Stimmung gedrückt. «Suat sieht die Zukunft der Türkei düster», sagt sein Bekannter. «Das werden Sie gleich selber hören.»

Vater von tausend Kindern

Die Fahnen sind zusammengerollt und verstaut, als Karavus im Café eines kurdischen Freundes vom glücklichsten Moment seines Lebens erzählt: Mitten auf der Istanbuler Istiklalstrasse stand er da, die Augen voller Tränengas. Vor ihm die Polizei mit ihren Wasserwerfen, um ihn herum die rennenden, rufenden, tanzenden Gezi-DemonstrantInnen. Da war Suat Karavus plötzlich eine Frau. Eine Frau, die mitten im Getümmel ein Kind auf die Welt brachte; und dann noch eines und noch eines. Tausende Kinder gebar der Politiker, während es um ihn herum knallte. Irgendwann ertappte er sich dabei, wie er mit Zeige- und Mittelfinger eine Schere bildete, um vor seinem Bauch eine imaginäre Nabelschnur zu durchtrennen.

Wer Karavus’ Geschichte kennt, dem leuchtet seine Vision ein: Er war zwanzig Jahre alt und Geschichtsstudent, als er nach dem Militärputsch von 1980 als Mitglied einer sozialistischen Jugendgruppe verhaftet wurde. Acht Jahre lang verbrachte er im Gefängnis, wo er massiv gefoltert wurde. Nach der Freilassung floh er in die Schweiz, hier erhielt er politisches Asyl. Obwohl er weiss, dass er flüchten musste, blieb ein schlechtes Gewissen: den Zurückgebliebenen gegenüber und dem ganzen Land, das seine Generation doch hätte reformieren sollen. «Aber als ich vor zwei Jahren all diese jungen Menschen sah, wie sie protestierten, mit ihren Masken, ihrer Musik, da fiel das schlechte Gewissen von mir ab.» Karavus hat die neue türkische Protestjugend abgenabelt, so wie es Mütter mit ihren Kindern tun. «Ich habe gesehen, dass sie es noch viel besser machen als wir damals.»

Suat Karavus ist Sozialist geblieben. Einer, der gerne die Philosophen der Aufklärung zitiert, Robespierre etwa oder Rousseau. Sie hätten damals den Staat von der Religion getrennt. Nun müsse der Staat vom Nationalismus befreit werden. «Im Namen der Nation wurden die blutigsten Kriege der Geschichte geführt.» Der schweizerischen Politik näherte sich Karavus, als er nach seiner Ankunft in der Schweiz Zeitungsartikel für türkische Medien zu übersetzen begann. Der allererste Text, erinnert er sich, sei ein WOZ-Artikel gewesen. «Das war 1991, es ging um den Frauenstreik.» Seit zwei Jahren sitzt der 56-Jährige nun im Einwohnerrat von Windisch. Er will dort politisieren, wo er lebt.

Doch der Blick bleibt auch auf die alte Heimat gerichtet. Auch er hat die prokurdische HDP gewählt im vergangenen Juni, als die Welt mit einer Mischung aus Hoffnung und Skepsis auf die Türkei blickte. «Wir wollten den Moment geniessen. Es war das erste Mal in der Geschichte der Kurden, dass sie auf demokratischem Weg Erfolg hatten. Und zum ersten Mal in der Geschichte des Landes bildeten die linken Kräfte des Landes eine breite demokratische Front.» Karavus ist überzeugt, dass die Kurdenfrage in der Türkei unter einem nationalen Dach gelöst werden muss: «Wir können uns nur gemeinsam retten. Was geschähe denn mit den Kurden in Istanbul oder Izmir, wenn die Kurden einen Staat in Ostanatolien erhielten? Und was mit den Türken in Ostanatolien?»

Der gefährliche Präsident

Vier Monate nach dem hoffnungsvollen Wahlergebnis hat Karavus jedoch Angst. Angst vor Recep Tayyip Erdogans Machthunger, Angst vor dem Bürgerkrieg. Er wusste von der Gefahr, die vom Präsidenten ausging, der, so Karavus, in der guten alten Tradition türkischer Putschisten stehe. Und doch war die absolute Rücksichtslosigkeit Erdogans nach den Wahlen für ihn ein Schock – der dunkle Zeiten erahnen lässt.

Eines gehe oft vergessen, sagt Karavus: «Bis jetzt kämpfen in der Türkei nicht Kurden und Türken gegeneinander, sondern das türkische Militär gegen kurdische PKK-KämpferInnen. Bisher gab es keine Gewalt unter ZivilistInnen und schon gar keine Massaker wie etwa im Balkankrieg, die bis heute tiefe Narben hinterlassen haben.» Erdogan aber riskiere mit seiner Taktik genau das: unheilbare Wunden.