Vor vierzig Jahren: Als das öffentliche Leben zusammenbrach

Nr. 43 –

Ende Oktober 1975 gönnten sich über neunzig Prozent der Isländerinnen einen freien Tag und verweigerten jegliche Arbeit. Plötzlich war offensichtlich, wie politisch das Private ist.

Was passiert, wenn neun von zehn Frauen für einen Tag nicht das tun, was Mann von ihnen erwartet? Am 24. Oktober 1975 nahmen sich über neunzig Prozent der Isländerinnen frei, um Kaffee zu trinken, zu diskutieren, zu rauchen und Reden zu halten. Sie gingen nicht ins Büro, kochten nicht, putzten nicht, passten nicht auf die Kinder auf und standen ihrem Mann nicht zur Verfügung – sondern gingen aus. In Reykjavik demonstrierten an jenem Tag rund 25 000 Frauen, es war die bis dahin grösste Versammlung, die die Stadt je erlebt hatte. Insgesamt lebten damals circa 82 000 Menschen in der Region um die Hauptstadt.

Der «Freie Tag der Frauen» vor vierzig Jahren zeigte, wie politisch das Private ist. Er machte die abgewertete, von Frauen geleistete Arbeit sichtbar: Geschäfte und Fabriken blieben geschlossen, genauso wie Schulen, Kindergärten und Theater. Viele Männer konnten nicht zur Arbeit gehen, weil sie auf ihre Kinder aufpassen mussten. Andere Väter nahmen die Kinder kurzerhand mit ins Büro. Die Telefonverbindungen funktionierten nicht mehr. Tageszeitungen erschienen am nächsten Morgen nicht – oder nur mit halb so vielen Seiten, dafür ausschliesslich mit Berichten über den Streik. Kurz: Das öffentliche Leben auf der Insel brach zusammen.

Bereits 1970 hatten Feministinnen in New York gestreikt. Dann kürte die Uno 1975 zum Internationalen Jahr der Frau und die folgenden zehn Jahre zur Dekade der Frau. Deshalb erklärten die fünf grössten isländischen Frauenorganisationen den 24. Oktober, den Tag der Vereinten Nationen, zum Freien Tag der Frauen. Sie forderten die Isländerinnen auf, sich den Tag «freizunehmen, um die Bedeutung der von ihnen verrichteten Arbeit zu demonstrieren». Die Bezeichnung «Freier Tag der Frauen» klang weniger abschreckend als «Streik» und hatte rechtliche Vorteile: Unternehmen durften ihre Angestellten wegen eines freien Tages nicht entlassen, Streikenden hingegen hätte die Kündigung gedroht. Trotzdem betonte das Organisationskomitee, es gehe ums Kämpfen, nicht ums Feiern. Gründe zum Kämpfen hatten die Isländerinnen genug: 1975 verdienten sie rund ein Drittel weniger als ihre männlichen Kollegen. Hinzu kam die unbezahlt geleistete Reproduktionsarbeit, die abgewertet und unsichtbar war: Küchenarbeit, Hausarbeit und das, was sich heute Care-Arbeit nennt, Pflegen und Umsorgen.

Dass Frauen wie 1975 in Island so konsequent gemeinsam ihre Stärke demonstrieren, bleibt bis heute ein einzigartiges Ereignis. Die Methode jedoch hat sich verbreitet: 1991 streikten eine halbe Million Frauen in der Schweiz unter dem Motto «Wenn Frau will, steht alles still». 1994 sagten eine Million Frauen in Deutschland «Uns reicht’s!» und gingen auf die Strasse.

Was Gleichberechtigung angeht, bleibt Island einen Schritt voraus: 1980 wählten die IsländerInnen, als weltweit Erste, eine Frau ins Staatspräsidium. Fünf Jahre später, nach einem weiteren Streik, zog eine Frauenpartei ins Parlament ein. Die Insel besitzt eines der modernsten Abtreibungsgesetze. Seit 2010 dürfen homosexuelle Paare in Island heiraten.

Trotzdem: Laut der isländischen Frauenrechtsorganisation Kvenrettindafelag verdienen Frauen für die gleiche Arbeit im Schnitt noch immer zwischen sechs und sechzehn Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. Noch immer erfahren Frauen in Island Belästigung und häusliche Gewalt – physische oder sexuelle. Aber es gibt auch immer noch Frauen, die kämpfen. So demonstrierten im vergangenen Sommer in Reykjavik Tausende gegen Rape Culture und für die Selbstbestimmung der Frau. Rape Culture bezeichnet eine Gesellschaft, in der sexualisierte Gewalt zwar an der Tagesordnung ist, aber so nicht anerkannt wird: Betroffenen wird generell misstraut oder die Schuld zugeschoben, indem Täter geschützt und Vorfälle verharmlost werden.

Auch nach vierzig Jahren ist das Private noch politisch. Oder Frau könnte sich auch sagen: Nach wie vor und jetzt erst recht!