Zeitgerechtigkeit: «Wir müssen Sorgearbeit anders denken»
Mehr Erwerbsarbeit ist auch keine Lösung: Der liberale Feminismus und die moderne Gleichstellungspolitik stellten die Machtfrage viel zu wenig konsequent, findet Buchautorin Teresa Bücker. Ein Gespräch über Zeitarmut und -wohlstand, Bullshitjobs und neue Perspektiven.
WOZ: Frau Bücker, haben Sie schon mal gestreikt?
Teresa Bücker: Nein. Ich war natürlich schon auf Demos, aber im Arbeitsleben habe ich noch keinen organisierten Streik erlebt.
Vor vier Jahren streikten in der Schweiz eine halbe Million Frauen und Queers – haben Sie das in Deutschland mitbekommen?
Ja sicher! Feminist:innen in Deutschland haben das sehr begeistert verfolgt. Und auch versucht, davon zu lernen. Aber ich denke, das Potenzial für Proteste oder einen feministischen Streik ist immer dort grösser, wo echte Gleichberechtigung noch ein bisschen weiter weg ist, wo die politischen Rahmenbedingungen noch ein bisschen schlechter sind. Von daher sind die Gegebenheiten in der Schweiz wohl günstiger, um für einen Streik zu mobilisieren – und er ist natürlich auch nötiger. Wobei ich Deutschland nicht besonders loben möchte, das Land ist auch total rückständig.
In Ihrem Buch «Alle_Zeit» beschäftigen Sie sich mit Zeitkultur. Was hat der Kampf um Gleichstellung mit Zeit zu tun?
Zeitsouveränität, also die Frage, über wie viel Zeit man selber verfügen kann, ist eine Machtfrage. Und das war schon immer Thema in Arbeitskämpfen. Interessanterweise ist es aus den politischen, etwa den gewerkschaftlichen, Bewegungen etwas verschwunden. Es ist kaum als Thema präsent, dass man für mehr freie Zeit, also für weniger Arbeitszeit, auch streiken kann und dass das ein legitimes Anliegen ist. In Deutschland hat sich die tarifliche Arbeitszeit seit ungefähr dreissig Jahren kaum mehr verringert – und die Vierzigstundenwoche mit dem Achtstundentag wird noch immer als Mass aller Dinge hingenommen. Mich irritiert das.
Alles eine Frage der Zeit
Wessen Lebenszeit ist wie viel wert? Es ist letztlich diese Frage, der sich Teresa Bücker in «Alle_Zeit» (Ullstein-Verlag, 2022) facettenreich annähert. Lebensweltlich mag das Buch in einem bildungsbürgerlichen Milieu verortet sein, aber die Autorin schildert darin präzise, wie sehr Race, Class und Gender über ungleichen Zeitwohlstand entscheiden.
Teresa Bücker (39) hat sich als Fachreferentin, Bloggerin, Redaktorin und seit 2021 als Buchautorin einen Namen gemacht. Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt in Berlin.
Warum?
Zeitdruck und Zeitarmut sind in unserer Gesellschaft sehr real vorhanden. Immerhin wird das Thema von manchen Gewerkschaften in Deutschland langsam wiederentdeckt, etwa mit der Ankündigung, die Viertagewoche verhandeln zu wollen. Es passiert etwas. Wobei, wirklich weg war das Thema nie: Zeit wurde einfach anders verhandelt – etwa unter den Stichwörtern «Flexibilität» oder «Selbstbestimmung». Nun glaube ich, dass eine grössere Debatte um Arbeitszeitverkürzung auf uns zukommt und so schnell auch nicht wieder weggehen wird.
Der Achtstundentag sieht eine Dreiteilung des Tages vor: acht Stunden Schlaf, acht Stunden Arbeit, acht Stunden Freizeit. Er ist das Resultat vehementer Arbeitskämpfe vor gut hundert Jahren. In Ihrem Buch argumentieren Sie, das Konzept sei überholt. Was wäre eine zielführende Forderung für die heutige Zeit?
Das habe ich im Buch bewusst offengelassen, weil ich finde, dass das in gemeinschaftlicher Aushandlung entstehen soll. Es müssen möglichst viele Perspektiven zusammengetragen werden, um zu erkennen, welche Arbeitszeit für die Gegenwart sinnvoll sein könnte. Sie muss jedenfalls deutlich unter acht Stunden liegen. Mindestens genauso wichtig ist es, den dominierenden Arbeitsbegriff aufzubrechen und ein komplett neues Verständnis von Arbeit zu etablieren.
Welches?
Eine feministische Definition lautet etwa: Arbeit ist alles, was unverzichtbar ist, um eine Gesellschaft, wie wir sie uns wünschen, am Laufen zu halten. Entsprechend würde das auch die unbezahlte Sorgearbeit umfassen, in der Familie und im privaten Umfeld. Vielleicht landen wir dann wieder bei einem achtstündigen Arbeitstag, aber der würde eben auch andere Arbeiten einschliessen.
Man kann aber noch weiter gehen und sagen, dass in einer Demokratie auch politisches Engagement eine gesellschaftlich wichtige Arbeit darstellt. Oder, wie es die Soziologin Frigga Haug in ihrer Vier-in-einem-Perspektive vorschlägt, kulturelle Arbeit. Gerade jetzt, wo eine sozialökologische Transformation dringend nötig ist, liegt darin eine zentrale Frage: Welche Arbeit ist gesellschaftlich wirklich notwendig? Und wie soll sie entlöhnt werden?
Wer soll das entscheiden?
Es ist eine Debatte, die politisch gesteuert werden müsste. Und vor allem betrifft sie auch die klassische Wirtschaft. Wir kommen angesichts der Klimakrise und in einigen Ländern auch angesichts einer Care-Krise wegen des Fachkräftemangels an den Punkt, dass wir eine politische Auseinandersetzung über die Steuerung der Wirtschaft führen müssen. Wo brauchen wir mehr Arbeiter:innen? Wo hingegen verbringen Menschen ihre Zeit in Jobs, die weder ihnen selbst noch irgendwem sonst etwas bringen, also in Bullshitjobs, wie der Kulturanthropologe David Graeber sie genannt hat? An diese Fragen müssen wir uns heranwagen.
Gerade bei Care-Arbeit tun sich viele Menschen schwer, sie als Arbeit zu betrachten: Wenn sie etwa ein Baby in den Schlaf wiegen oder einem Freund zuhören, der Kummer hat. Was ist Liebe und Freundschaft, was ist Arbeit?
Das ist tatsächlich eine offene Frage im feministischen Diskurs, und dazu habe ich auch keine abschliessende Antwort. Ist es zielführend, alles als Arbeit zu bezeichnen? Gerade im Familienbereich, wenn es etwa um Kinder geht, lehnen es viele Menschen ab, deren Betreuung als Arbeit zu bezeichnen. Auch wenn dies manche Debatten erschwert: Diese Auseinandersetzungen um Begriffe müssen wir eben führen.
Ich würde argumentieren: Wir kennen es auch von der Erwerbsarbeit, dass es Tätigkeiten gibt, die wir nicht gerne erledigen, und andere, die wir mit Freude machen. Viele Menschen lieben ihren Job und machen ihn mit Leidenschaft. Trotzdem nennen wir das dann noch immer Arbeit. Entsprechend liesse sich sagen: Auch wenn ich sehr gern mein Kind versorge, kann ich das als Arbeit bezeichnen.
Sich um andere zu kümmern, braucht vor allem Zeit. Sie schlagen vor, die gesellschaftliche Arbeitsverteilung unter dem Konzept der «Zeitgerechtigkeit» zu verhandeln. Was ist darunter zu verstehen?
Ich berufe mich dabei auf den Arbeitsrechtler Ulrich Mückenberger. Menschen, die «Zeitwohlstand» erleben, haben genügend Zeit für sich selbst und andere, sie verfügen über eine gewisse Autonomie im Umgang mit ihrer Zeit. Menschen in «Zeitknappheit» oder «Zeitarmut» können nicht selbstbestimmt über ihre Zeit verfügen, sei dies im Rahmen ihrer Erwerbsarbeit oder anderer Arbeitsformen.
Das Konzept der Zeitgerechtigkeit denkt das auf einer strukturellen Ebene weiter. Es hat zum Ziel, dass alle Menschen gleich viel Zeitsouveränität haben. Das ist eine wichtige Weiterentwicklung der feministischen Diskurse der letzten Jahre, die ja durchaus den Schwachpunkt haben, Debatten oder Problemstellungen sehr stark zu individualisieren und Einzellösungen zu entwerfen. Es geht darum, wieder stärker auf die gemeinschaftliche Ebene zu schauen und auch klar zu benennen, dass die grossen gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten politische und strukturelle Lösungen brauchen – und eben nicht Menschen, die sich allein um sich selbst kümmern und in ihrem Alltag die Dinge optimieren.
Wir lebten in einer «zeitknappen Gesellschaft», schreiben Sie in Ihrem Buch. Wer aber nimmt uns unsere Zeit?
Das ist total vielschichtig. Primär ist es die Art und Weise, wie wir die Gesellschaft organisieren. Ein ganz grosser Faktor ist die Erwerbszentrierung unserer Gesellschaft. Selbst in wohlhabenderen Milieus wird eine wachsende Zeitknappheit empfunden: etwa weil immer mehr Menschen immer längere Pendelstrecken zur Arbeit zurücklegen müssen. Gleichzeitig dehnt sich auch in reichen Ländern der Niedriglohnsektor aus, und prekäre Beschäftigungsbedingungen werden häufiger, man denke etwa an Pflegeberufe, an Versand- und Lieferdienste, an die Gig Economy. Immer mehr Leute sind gezwungen, mehr als einen Job anzunehmen. Entsprechend verbringen sie noch mehr Lebenszeit mit Erwerbsarbeit. Daneben bleibt weniger Zeit für alle anderen Arbeitsformen, und weil gerade die Care-Arbeit insbesondere von Frauen verrichtet wird, geht das auf Kosten ihrer Zeitsouveränität.
Der liberale Feminismus schlägt vor, dass Frauen mehr Erwerbsarbeit machen, um unabhängiger zu werden – und die Care-Arbeit soll ausgelagert werden, zum Beispiel an eine Putzkraft.
Das ist oft der Tipp, die vermeintliche Lösung im Kapitalismus: Wenn du viel arbeitest und sehr beschäftigt bist, kannst du dir Zeit dazukaufen. Tatsächlich aber bezahlen wir andere Menschen dafür, uns Aufgaben abzunehmen. Doch das lohnt sich natürlich nur, wenn du in derselben Zeit mehr Geld verdienst als die Person, die zum Beispiel deine Wohnung putzt. Du bist also auf eine soziale Ungerechtigkeit angewiesen: Die Lebenszeit eines anderen Menschen soll weniger wert sein als die eigene. Wir greifen auf dessen Zeit zu.
Der liberale Feminismus und die moderne Gleichstellungspolitik stellen die Machtfrage nicht. Zumindest nicht an die Adresse der mächtigen Männer, die ihr Leben verändern müssten – die anfangen müssten, weniger Zeit mit Erwerbsarbeit zu verbringen und mehr unbezahlte und unbequeme Arbeit zu übernehmen.
Stattdessen wird diese billig outgesourct, oft an andere Frauen.
Mich macht es wirklich wütend, das immer wieder erklären zu müssen. Es kann doch nicht sein, dass selbst Feministinnen nicht sehen, dass sie viel zu wenig die Auseinandersetzung mit der männlichen Macht in der Gesellschaft gesucht haben. Dass sie die Lösung für sich selbst in der Imitation männlicher Lebensmodelle sehen und damit die Lebenssituation anderer Frauen verschlechtern – oder auf einem niedrigen Niveau festschreiben. Ich hoffe, dass wir in den feministischen Debatten anfangen, die Männer stärker in die Pflicht zu nehmen, sich zu verändern.
Leider ist es selten so, dass gesellschaftlich bessergestellte Gruppen bereit sind, ihre Privilegien einfach so abzugeben. Wie können sie ihnen entrissen werden?
Eine Strategie ist, Freiheit und Lebensqualität umzudeuten. Das ist auch mit ein Punkt, der gerade in der Debatte um die Viertagewoche entsteht. Weniger Zeit mit Erwerbsarbeit zu verbringen, ist auch eine Form von Freiheit und Selbstbestimmung.
Davon scheinen wir in der Schweiz weit entfernt: Zurzeit tobt eine mediale Debatte, in der allein schon Teilzeitarbeit schlechtgemacht wird. Aber angenommen, Männer würden tatsächlich weniger Zeit im Job verbringen: Würden sie wirklich mehr Sorgearbeit übernehmen – oder einfach öfter mountainbiken gehen?
Das ist ein ganz wichtiger Punkt, und da muss man in der Debatte um Teilzeitarbeit vorsichtig sein. Denn Care-Arbeit wird damit nicht automatisch gerechter verteilt. Punktuell wohl schon, aber die Viertagewoche ist nicht das feministische Paradies, in dem plötzlich alle gleichberechtigt leben.
Eine Studie zu Paaren in Deutschland hat beispielsweise gezeigt, dass Männer am Wochenende signifikant mehr Freizeit haben als ihre Partnerinnen. Offenbar fällt es Paaren sehr schwer, das gleichberechtigt auszuhandeln. Auch bei Beziehungen, in denen beide Partner:innen in Vollzeit tätig sind, übernimmt die Frau immer noch mehr Sorgearbeit.
Dennoch: Um Care-Arbeit fair zu teilen, muss Zeit frei werden. Arbeitszeitverkürzung ist somit überhaupt erst die Voraussetzung, damit das passieren kann.
Es fällt auf, dass wir uns bereits wieder in einem fürchterlich heteronormativen Szenario befinden. Sollten wir nicht grundsätzlich die bürgerliche Kleinfamilie sprengen, damit alle in Zeitwohlstand leben können?
Das auch, auf jeden Fall. Wir müssen Sorgearbeit gesellschaftlich insgesamt anders denken und verteilen. Im Zuge der gesellschaftlichen Veränderungen bleiben mehr Menschen kinderlos und organisieren Care-Arbeit anders, etwa in Freundschaftsnetzwerken. Ältere Menschen organisieren sich beispielsweise in Wohngemeinschaften. Wir haben vermehrt neue Lebensmodelle, die ebenfalls eine rechtliche Absicherung brauchen.
Aber auch in neuen Lebensmodellen bleiben ökonomische Zwänge bestehen. Kann es im Kapitalismus überhaupt Zeitgerechtigkeit geben?
Es fällt mir schwer, darauf eine pauschale Antwort zu geben. Im Kapitalismus ist alles so ambivalent, weil er gewisse Fortschritte mitbringt und gleichzeitig grosse Ungerechtigkeiten festschreibt.
Wagen wir zum Schluss ein Gedankenexperiment: Was würde passieren, wenn ein feministischer Streik unbefristet und global stattfinden würde?
Dazu gibt es ein schönes Zitat der britischen Autorin Laurie Penny. In ihrem Buch «Fleischmarkt» hat sie sinngemäss geschrieben: Würden alle Frauen auf der Welt morgen aufwachen und sich stark und mächtig fühlen, dann würde die Weltwirtschaft innerhalb eines Tages zusammenbrechen. Ich mag das Szenario, denn es zeigt auf, wie unverzichtbar die von Frauen geleistete, oft unbezahlte Arbeit ist.
Care-Arbeit ist die Grundlage der Wirtschaft – und Care-Arbeit ist Lebenszeit. Ich hoffe sehr, dass Feminist:innen weltweit sehr viel öfter streiken, um das zu beweisen. Das würde dann wahrscheinlich auch den Kapitalismus zum Wackeln bringen.