Demoverbote: Die Berner Angst vor dem totalen Kontrollverlust

Nr. 44 –

In der Hauptstadt gibt es striktere Regeln für Kundgebungen vor den Wahlen – betroffen ist vor allem die ausserparlamentarische Linke. Wen kümmert da das Versammlungsrecht?

Samstag vor zwei Wochen in Bern: Im Seiteneingang des Warenhauses Loeb blockieren vier Regale mit Sloggi-Unterwäsche die Glastüren. Drinnen erkundigen sich verwirrte KundInnen beim uniformierten Türsteher, was los sei. Auf der anderen Seite der Scheibe stehen circa zwanzig jugendliche DemonstrantInnen, eingekesselt von vier Gitterwagen der Kantonspolizei, und warten darauf, ihre Schuhe und Socken auszuziehen und sich kontrollieren zu lassen.

Es war bereits der zweite antifaschistische Spaziergang in einer Woche, den die Polizei um jeden Preis verhindern wollte. Weil sie es eine Woche zuvor mit einem Polizeiaufgebot von knapp tausend Einsatzkräften erfolgreich geschafft hatte, verschoben die OrganisatorInnen ihren Spaziergang gegen Rassismus und Fremdenhass. Fazit am darauffolgenden Samstag: zwei Polizeikessel, Gummischrot, 110 Personen verhaftet. Und dies, obwohl es seitens der DemonstrantInnen keinerlei Gewalt gab. Dann eine dritte, tolerierte Demonstration am Sonntag – gegen Polizeigewalt.

Beschluss gegen Grundrechte

Die Polizei führte aus, was der Gemeinderat, die Berner Stadtregierung, kurz vor Weihnachten 2014 per Beschluss angeordnet hatte: Vor den Wahlen – heuer ab dem 1. September – sollten in der Bundeshauptstadt keine politisch kontroversen Kundgebungen stattfinden. Konkret sollten Wahlkundgebungen nur als Platzkundgebungen bewilligt werden, es dürfe nicht mehr als eine pro Tag stattfinden, und auf dem Bundesplatz würden Demonstrationen generell verboten. Auch wenn im Beschluss von Wahlkundgebungen die Rede ist, so war er doch allgemeiner gedacht: «Wir wollen kein politisches Zeichen, weder von links noch von rechts», sagt Stadtpräsident Alexander Tschäppät gegenüber der WOZ. «Wenn man unter dem Titel Meinungsfreiheit Veranstaltungen mit einem Gewaltrisiko machen will, dann ist diese Einschränkung zulässig.»

«Demonstrationsfreiheit bedeutet, dass jede Demonstration grundsätzlich zulässig ist», sagt dagegen Viktor Györffy, Anwalt für Grundrechtsfragen. «Ein Verbot ist das letzte Mittel für die Behörden. Dafür müssen sie gute Gründe nennen können: Einfach zu sagen, dass ein paar Scheiben zu Bruch gehen könnten, reicht nicht. Auch unbewilligte Demonstrationen stehen unter dem Schutz der Demonstrationsfreiheit. Sie können nicht einfach mit beliebigen Mitteln unterdrückt werden.»

Rückblende auf den 6. Oktober 2007: DemonstrantInnen blockieren die untere Altstadt mit einem Sitzstreik, um die SVP daran zu hindern, mit Pomp, Parteiprominenz und einigen Neonazis zum Bundesplatz zu marschieren und sich zwischen Festzelten und einer überdimensionalen Milchkanne selbst zu zelebrieren. Die Polizei geht mit Gummischrot und Tränengas gegen die Sitzstreikenden vor. Später stürmt eine kleine Gruppe Linker den Bundesplatz und schlägt eine Viertelstunde lang das Mobiliar klein, während die restlos überforderte Polizei in der unteren Altstadt festhängt.

Danach konnte sich die SVP als Opfer linksextremer Chaoten inszenieren. Für die Polizei aber war der Tag ein Desaster. Sie hatte die Situation falsch eingeschätzt, war mit 457 Einsatzkräften überfordert, stand am falschen Ort, und während einer halben Stunde brach die Funkverbindung zusammen.

Seither hat sich die Angst in die Köpfe von Berns ExekutivpolitikerInnen gefressen. Angst, bei einer Demo wieder die Kontrolle zu verlieren, Angst, die Hauptstadt könnte erneut als Schauplatz der Schande in die Schlagzeilen geraten.

Die Angst frass offenbar einen Teil des Sensoriums für Grundrechte. 2008 wollte der Gemeinderat das Kundgebungsreglement ändern: Kundgebungen sollten generell nur noch als Platzkundgebungen stattfinden dürfen. Das Verwaltungsgericht strich den Artikel – weil verfassungswidrig – wieder aus dem Gesetz.

Vor den nationalen Wahlen jedoch scheint der Ausnahmezustand dauerhaft etabliert. Bereits 2011 beschloss der Gemeinderat, die Regeln für politische Kundgebungen vor den nationalen Wahlen massiv zu verschärfen. Die SVP musste ihre Wahlkundgebung als Platzveranstaltung abhalten – begleitet von tausend PolizistInnen, die rund fünfzig Personen auf Verdacht hin festnahmen. Oberstes Ziel von Sicherheitsdirektor Reto Nause war es, eine Gegendemonstration zu verhindern. Die zusätzlichen Kundgebungsregeln, obwohl sie für alle gleich gelten sollten, treffen vor allem unabhängige DemonstrantInnen. Nicht die etablierten Parteien.

Die kleine Pegida-Demo

Sicherheitsbedenken wegen Gegendemonstrationen sind ein beliebtes Argument für Behörden, um Veranstaltungen zu verbieten. So hat etwa die Stadt Frauenfeld deshalb diesen Sommer ein Gesuch der Pegida Schweiz abgelehnt, die ihre erste Demonstration in der Schweiz im Thurgauer Hauptort abhalten wollte.

Anwalt Györffy sagt dazu: «Gegendemonstrationen gehören zum politischen Diskurs genauso dazu wie das Recht abzustimmen. Die Aufgabe des Staats ist es, diesen Diskurs zu ermöglichen, die Aufgabe der Polizei, dafür zu sorgen, dass sich die gegnerischen Demonstranten nicht die Köpfe einschlagen. Aber nicht, indem man die Demonstrationen einfach verbietet.»

In Bern übrigens konnte die Pegida trotzdem eine kleine Demonstration auf dem Bundesplatz machen. Eine Handvoll Pegida-VertreterInnen nutzte die Gelegenheit eines Interviews mit einem russischen Fernsehsender, um noch schnell ein Transparent auszurollen und sich damit ablichten zu lassen. Sie wurden – nachdem das Bild via Twitter bei der Stadt gelandet war – gebüsst. Die Zeiten stehen schlecht für öffentliche politische Auseinandersetzungen.