Türkei: Das sieht aus wie Krieg, das ist Krieg
Seit Wochen liefern sich im Südosten der Türkei Sicherheitskräfte erbitterte Gefechte mit kurdischen DemonstrantInnen. Ein Augenschein im militarisierten Gebiet.
Alle stehen um den Besucher herum, wollen ihm etwas zeigen. Der Bäcker kommt aus seinem Laden und weist auf Einschusslöcher hin. Der Restaurantbesitzer zeigt die Sandsackbarrikaden auf der Strasse. Kinder deuten auf Löcher in den Wänden, machen «Taktaktak»-Geräusche. Sie lachen, als wäre alles ein grosser Spass.
Die BewohnerInnen der Städte Diyarbakir und Cizre im Südosten der Türkei sind Angriffe und Gewalt gewohnt: Nirgendwo sonst im Land ist der kurdische Widerstand so gross und die Unterstützung für die kurdische Arbeiterpartei PKK so offensichtlich. Überall prangt das Bild des Vorsitzenden Abdullah Öcalan als Graffito an den Wänden.
Wahrscheinlich haben regierungsnahe türkische Medien recht, wenn sie behaupten, bei den DemonstrantInnen, die sich im letzten Monat heftige Gefechte mit der Polizei geliefert haben, handle es sich um UnterstützerInnen der «Terrororganisation» PKK. Und als solche wird die PKK nicht nur in der Türkei eingestuft, sondern etwa auch in der EU. Wenn dem so ist, sind mittlerweile ganze Stadtteile in der Hand von «TerroristInnen». Dann gehören nicht nur ausgebildete GuerillakämpferInnen zur PKK, sondern auch HandwerkerInnen, Coiffeure, Hausfrauen. Es scheint, als wäre hier der Traum einer jeden Guerilla wahr geworden: Die Guerilla ist das Volk und das Volk ist die Guerilla. PKK überall.
Diese Verbundenheit der Bevölkerung erschwert die Arbeit der HDP, der Demokratischen Partei der Völker. Der prokurdischen Partei, die bei der Wahl im Juni ins Parlament einziehen konnte, wird vorgeworfen, TerroristInnen zu unterstützen. Zahlreiche RepräsentantInnen der Partei wurden bereits unter diesem Vorwand verhaftet. Diejenigen, die noch auf freiem Fuss sind, stehen unter immensem Druck, haben Angst, als Nächste festgenommen zu werden. Wahlkampf für die Neuwahlen Anfang November zu machen, fällt unter diesen Bedingungen schwer.
Der Staat als Besatzungsmacht
Ende August eskalierte die Situation. Der türkische Staat verhängte über mehrere Kommunen eine Ausgangssperre und ging in Stadtteilen, in denen der Widerstand besonders stark war, militärisch vor. In Diyarbakir und Cizre tobten Kämpfe zwischen der Polizei und «Jugendlichen», die unter dem Namen YDG-H (Yurtsever Devrimci Genclik Hareketi – Bewegung der Revolutionär-Patriotischen Jugend) firmieren. Und von denen staatsnahe Medien behaupten, sie seien die Jugendorganisation der PKK und erhielten ihre Befehle aus den irakischen Kandilbergen, dem Rückzugsgebiet der Partei. Andere bestehen darauf, dass es sich um einfache Jugendliche aus den Vierteln handelt, die «Selbstschutzeinheiten» aufgebaut und so etwas wie die Polizeifunktion übernommen haben. Denn die reguläre türkische Polizei traut sich in bestimmte Stadtteile ohne Panzer nicht mehr hinein. Und viele EinwohnerInnen vertrauen ihr ohnehin nicht.
Während der Fahrt durch den Süden der Türkei sind immer wieder militärisch gesicherte Kasernen und Polizeistationen zu sehen. Der türkische Staat tritt in dieser Gegend wie eine Besatzungsmacht auf – und wird von vielen auch als solche empfunden. Da aus der Gegend fast niemand PolizistIn werden will, stammen die meisten BeamtInnen aus anderen Provinzen der Türkei. Stark gesichert patrouillieren sie abends in ihren gepanzerten Fahrzeugen durch die Strassen. Manchmal lugt aus dem aufgebauten Geschützturm der Wagen auch ein Gewehr. «Nach Einbruch der Dunkelheit sollte niemand mehr auf der Strasse sein», warnt der Übersetzer. Als er vom Joghurtgetränk Ayran nachschenkt, zittern seine Hände.
Die Furcht vor der Polizei ist gross, aber ebenso gross ist der Hass auf sie. Man kann dies an den zahlreichen Dellen in den Fahrzeugen erkennen. Steine hinterlassen Spuren.
Angst vor islamistischen Übergriffen
Der Hass der Polizei auf die Bevölkerung scheint fast ebenso gross zu sein. Ein Lehrer führt durch das Altstadtviertel in Diyarbakir und zeigt die Schule, an der er bis vor einem Monat noch unterrichtet hat. «Die Polizei hat die Schule gestürmt und Scharfschützen positioniert. In den oberen Stockwerken und auf dem Dach waren Scharfschützen, die während der Ausgangssperre auf die Leute geschossen haben», erzählt er und ergänzt: «Als sie gingen, verwüsteten sie die Klassenzimmer und das Schullabor. Sie haben Behälter mit Säure zerschlagen. Wir wussten das nicht, und als wir zurückkamen, haben die Kinder versucht, den Boden aufzuwischen. Drei Kinder haben so schwere Verätzungen, dass sie immer noch im Spital liegen.»
Neben der Schule steht ein Gemeindezentrum, in dem sich der Stadtteilrat getroffen hat. Vollkommen ausgebrannt. An den Hauswänden sind kleinere Einschusslöcher zu sehen, die von Handfeuerwaffen herrühren, und grössere Löcher, die von schwereren Geschützen stammen müssen. Das sieht aus wie Krieg. Das ist Krieg.
EinwohnerInnen von Diyarbakir und Cizre sagen, dass neben regulären Polizeikräften auch maskierte Sondereinheiten eingesetzt werden, die besonders rabiat vorgehen. «Sie tragen Polizeiwesten, aber es sind keine Polizisten», sagt ein Mann. «Ich sah die langen Bärte unter den Masken.» In Diyarbakir hat eine Einheit namens Esadullah-Tim (Löwen Allahs) Wandschmierereien hinterlassen, auf denen sie drohten, die Menschen die «Macht des Türkentums» spüren zu lassen. Auch heisst es, der Staat habe Mitglieder der kurdisch-islamistischen Hür Dava Partisi rekrutiert, die mehr oder weniger offen ihre Sympathie für den Islamischen Staat (IS) bekundet.
In Cizre scheint die Angst vor organisierten islamistischen Übergriffen gross zu sein. Viele Gerüchte kursieren: Spezialeinheiten sollen unter «Allahu akbar»-Rufen Häuser gestürmt und Menschen getötet haben. «Die muskulösen Männer waren wie IS-Kämpfer gekleidet und sprachen Arabisch», berichtet aufgeregt eine Frau und deutet auf eine Reihe kleiner Löcher in der Wand hinter ihr. Maschinengewehrsalven. Die Leute erzählen die unterschiedlichsten Dinge über die vermeintlichen IS-Kämpfer. Die Angst verstärkt ihre Berichte. Es entstehen Gerüchte. Kein Gerücht aber sind die mindestens 21 Menschen, die in Cizre in den letzten Wochen ums Leben kamen.
«Man braucht keinen Staat»
Wie konnte es zu einer solchen Eskalation kommen? «Es war wohl eine persönliche Racheaktion, weil Erdogan sein Wahlziel verfehlte und die HDP in Cizre 92 Prozent bekommen hat», vermutet Leyla Imret, die aus Deutschland stammende und mittlerweile von der türkischen Regierung abgesetzte Kobürgermeisterin von Cizre. Ganz so einfach ist es nicht. In einer Deklaration hatten mehrere kurdische Städte erklärt, sich dem türkischen Staat nicht mehr verpflichtet zu fühlen. Sie riefen eine Struktur kommunaler Selbstverwaltung aus – ein System kleinteiliger Kommunen, die manchmal nur aus einem Häuserblock bestehen und ihre Angelegenheiten autonom regeln. Erst wenn diese Gemeinschaften mit Problemen konfrontiert sind, die sie nicht alleine lösen können, wird die nächste Ebene angerufen: ein Stadtteilrat, der sich wiederum aus VertreterInnen der Kommunen zusammensetzt, auf der nächsthöheren Ebene der Stadtrat. Dabei wird streng darauf geachtet, dass jeweils eine Frau und ein Mann als Delegierte bestimmt werden, auch alle Führungspositionen besetzt man paritätisch.
«Die Leute sollen lernen, sich selbst zu regieren», sagt Mehmet Tunc vom Stadtrat in Cizre. Diese Art der Selbstverwaltung gehe auf Ideen von Abdullah Öcalan zurück und sei seit mehreren Jahren im Aufbau. «Da braucht man keinen Staat», sagt Tunc. «Wenn er eingreift, haben wir das Recht auf Selbstverteidigung.» Die Frage, warum die Gemeinden die Deklaration ausgerechnet jetzt veröffentlicht haben – zu einem Zeitpunkt, zu dem die Stimmung ohnehin schon angespannt ist –, beantwortet Tunc nicht.
Bürgermeisterin Imret weiss eigentlich, dass die Türkei die Ausrufung der Autonomie nicht hinnehmen konnte. Und doch sagt sie, die Selbstverwaltung sei ohnehin schon längst bekannt und ihre Deklaration reine Formsache. Doch auch andere Theorien kursieren: Manche glauben, die Auseinandersetzung mit der türkischen Obrigkeit sei gezielt gesucht worden. Trifft das zu, ist dieser Versuch gescheitert: Letztendlich konnten die organisierten Einheiten die Zivilbevölkerung nicht schützen. Von den zahlreichen Verhaftungen von AktivistInnen ganz zu schweigen, die nun im Wahlkampf fehlen.
Präsident Recep Tayyip Erdogan und Ministerpräsident Ahmet Davutoglu nutzen die Welle der Gewalt derweil zur Propaganda: Sie verunglimpfen den Gegner und drohen, den Terror der Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen. Bei einer Niederlage der AKP könne er nicht mehr für die Sicherheit des Landes garantieren, sagte Davutoglu in einer Wahlkampfrede. «Wollt ihr, dass die Zeit der ‹weissen Toros› wieder kommt?», fragte er – und beschwor ein Schreckgespenst aus der Vergangenheit: In weissen Autos des Fiat-Modells Toro waren während der neunziger Jahre Tausende verschleppt worden. Viele sind bis heute nicht aufgetaucht – weder tot noch lebendig.
In Cizre werden derweil die Barrikaden erneuert. Über Nacht tauchen Absperrungen dort auf, wo am Vortag noch keine waren. Massive Wälle aus Sandsäcken, die teilweise zu Gefechtsständen ausgebaut sind. Vereinzelt sind auch Waffen zu sehen. «Beim letzten Mal konnten die Panzerwagen noch sehr weit in unser Viertel vordringen», sagt ein junger Mann, unter dessen weiter Jacke ein Gewehrlauf hervorlugt. «Das werden wir nicht mehr zulassen.» Alle warten gespannt auf den Ausgang der Wahl am 1. November und darauf, was danach passiert. Gewinnt die AKP, rechnen viele in Cizre mit dem Schlimmsten. Verliert sie – dann ebenfalls.
Thomas Hunter lebt als freier Journalist und Buchautor in Berlin, befindet sich aber zurzeit in den kurdischen Gebieten. Aus Sicherheitsgründen bevorzugt er es, diesen Artikel unter einem Pseudonym zu veröffentlichen.