Rumänien: Die «Colectiv»-Revolution

Nr. 46 –

Nach heftigen Protesten ist der sozialdemokratische Regierungschef zurückgetreten. Doch die Opposition gilt vielen als kaum vertrauenswürdiger. Die Strasse fordert eine neue politische Klasse.

«Ich kann nicht gegen den Willen der Menschen kämpfen», erklärte Ministerpräsident Victor Ponta Mitte vergangener Woche sichtlich schlecht gelaunt. «Ich muss mich dem berechtigten Ärger der Gesellschaft stellen und lege deshalb per sofort mein Mandat nieder», so der Sozialdemokrat. Was die zahlreichen Korruptionsskandale der letzten Monate und Jahre oder die Plagiatsvorwürfe gegen Ponta selbst nicht erzwingen konnten (siehe WOZ Nr. 27/2015 ), ist jetzt passiert: Die rumänische Regierung ist zurückgetreten, nachdem Zehntausende in Bukarest und anderen Grossstädten letzte Woche lautstark gegen die gesamte politische Führung protestiert hatten. Bis zu den Neuwahlen im nächsten Jahr soll nun eine Technokratenregierung um den früheren EU-Kommissar Dacian Ciolos das Land führen. Sie muss noch vom Parlament bestätigt werden.

Es begann mit 47 Toten

Anlass der Proteste war die Brandkatastrophe in einem Bukarester Nachtclub am 30. Oktober. An einem Konzert der rumänischen Rockgruppe Goodbye to Gravity im populären Nachtclub Colectiv war es zu einem der tragischsten Unfälle in der jüngeren Geschichte des Landes gekommen. Während einer Feuerwerkshow fing die innere Schalldämmung des Saals plötzlich Feuer. Die etwa 400 BesucherInnen des Lokals drängten aus dem überfüllten Raum, versuchten, die Notausgänge zu erreichen. Ein Gerangel entstand, bei dem Dutzende niedergetrampelt wurden. Obwohl sich der Club mitten im Zentrum der rumänischen Hauptstadt befindet, erreichten die Krankenwagen und Feuerwehrleute den Unfallort erst fünfzehn Minuten nach dem ersten Anruf.

Für viele kam die Hilfe zu spät: Beide Gitarristen der Band sowie dreissig junge Fans erlagen ihren Verletzungen noch vor Ort oder in den Spitälern, weitere fünfzehn, darunter der Schlagzeuger der Band, starben einige Tage später. Rund 120 Menschen befinden sich noch immer in ärztlicher Behandlung – viele inzwischen in Westeuropa, weil die Ausstattung in den Bukarester Spitälern unzureichend und das Personal überfordert war.

Das Unglück hat einen tiefen Einblick in die Missstände eines dysfunktionalen politischen Systems ermöglicht. Die Staatsanwaltschaft nahm Ermittlungen wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung auf, inzwischen sitzen die drei Lokalbesitzer in Untersuchungshaft. Zuvor hatten die BeamtInnen festgestellt, dass die Genehmigung für den Betrieb eine Obergrenze von achtzig BesucherInnen vorsah und die Schalldämmung aller Wahrscheinlichkeit nach unsachgemäss angebracht worden war. Sie vermuten, dass im Lauf der Zeit Schmiergelder geflossen sind – was in Bukarest kaum jemanden überrascht. Schliesslich muss für jede Genehmigung eine gewisse Summe Geld gezahlt werden. Der Bürgermeister des IV. Sektors von Bukarest trat zurück, allerdings erst vier Tage nach der Katastrophe. Inzwischen befindet auch er sich in Untersuchungshaft.

Spontane Protestbewegung

Am Anfang forderten vor allem junge BukaresterInnen in den sozialen Netzwerken eine gründliche Aufklärung der Umstände und Konsequenzen für die Verantwortlichen bei den Kommunalbehörden. Doch die Wut über das schlechte Krisenmanagement und die Straflosigkeit der PolitikerInnen kochte in breiteren Kreisen hoch, als weder Kommunalbehörden noch Zentralregierung Verantwortung übernehmen wollten.

Die entstandene Protestbewegung richtet sich mittlerweile gegen die gesamte politische Klasse Rumäniens. Zum Protest hatte eine kleine Gruppe von AktivistInnen im Internet aufgerufen. Allein in Bukarest gingen am Dienstag vergangener Woche mindestens 25 000 Menschen auf die Strasse. «Korruption tötet», stand auf den improvisierten Transparenten, die viele ProtestteilnehmerInnen hochhielten. Einer der Songs, die die Band Goodbye to Gravity auf dem fatalen Konzert gespielt hatte, handelte von Korruption in der Politik.

Täglich neue Demonstrationen

Die wirtschaftsliberale Opposition begründete ihre Forderung nach Neuwahlen damit, dass die sozialdemokratische Regierung mit ihrem Verhalten nach der Brandkatastrophe von Bukarest auch noch das letzte bisschen Glaubwürdigkeit verspielt habe. Doch in den Augen vieler RumänInnen sind auch die Wirtschaftsliberalen um Präsident Klaus Johannis kaum vertrauenswürdiger. Sie hatten zwischen 2009 und 2012 drastische Sparmassnahmen durchgesetzt, denen viele die Schuld für die chronische Unterfinanzierung von Verwaltungsapparat und Gesundheitssystem geben. Und Präsident Johannis selbst ist in eine skurrile Immobilienaffäre verwickelt, in der es um ein gefälschtes Testament geht.

Die Proteste werden wohl vorerst weitergehen: Die AktivistInnen rufen jeden Tag zu neuen Demonstrationen auf, «bis sich alles richtig ändert».