Proteste in Rumänien: «Fuchs, du hast die Gans gestohlen»
Korrupte PolitikerInnen versuchten, sich mit Gesetzesänderungen selbst zu retten. Nun erlebt Rumänien die heftigsten Proteste seit dem Ende der Ceausescus vor über 27 Jahren.
«In den Knast, nicht an der Macht!»: Seit Wochen tönen Sprechchöre über die Piața Victoriei. Der überdimensionierte Vorplatz der Regierungszentrale ist rappelvoll mit Menschen und Fahnen. Einen Teilsieg haben sie bereits erzielt, und doch gehen die Proteste weiter.
Die klirrende Kälte der letzten Wochen hatte schon am vergangenen Samstag nachgelassen. Nichts Gutes ahnend gab Ministerpräsident Sorin Grindeanu am Abend bekannt, er wolle «Rumänien nicht spalten». Deshalb verzichte er auf den Gesetzestext, der bestimmte Formen von Amtsmissbrauch oder Interessenkonflikten entkriminalisiert hätte – und die heftigsten Proteste seit dem Ende der Ceausescus im Jahr 1989 ausgelöst hatte. Glaubwürdig ist er für die halbe Million DemonstrantInnen auf dem Siegesplatz längst nicht mehr. Viele fordern bereits seinen Rücktritt und lassen jeden Abend grosse Marionetten mit gestreiften Gefängniskostümen und den Gesichtern führender PolitikerInnen durch die Strassen paradieren.
Im Sitzungssaal des Palasts blieben am Wochenende die Lichter bis in die späten Stunden an. In einer Sondersitzung am Sonntagnachmittag hob die Regierung dann tatsächlich die umstrittene Verordnung auf – die bereits am 11. Februar in Kraft getreten wäre. Die Protestbewegung bleibt skeptisch und ruft zu weiteren Kundgebungen auf. Viele DemonstrantInnen befürchten nämlich, dass die PolitikerInnen zu einem späteren Zeitpunkt erneut versuchen könnten, sich mit Gesetzesänderungen selbst zu retten – etwa mit einem dem Parlament bereits vorgelegten Entwurf zur Begnadigung bei bestimmten Straftaten.
Hilfe für Dinosaurier
An einer Ecke wird derweil die rumänische Variante von «Fuchs, du hast die Gans gestohlen» gesungen. Vor dem gegenüberliegenden Naturkundemuseum ruft eine Gruppe StudentInnen, man könne den Dinosauriern gerne beim Umzug helfen – eine Anspielung darauf, dass sie die politische Klasse nicht mehr für zeitgemäss hält. Während sich die Kabinettsmitglieder Sorgen darüber machen dürften, was überhaupt noch zu retten ist, spürten die DemonstrantInnen zum ersten Mal in den letzten Wochen einen Hauch von Erleichterung – und einen Haufen Stolz.
Von den Änderungen im Strafgesetzbuch hätte vor allem die Führungsriege der sozialdemokratischen Partei PSD selbst profitiert, die eine Mehrheit im Parlament stellt. Allen voran ihr Vorsitzender Liviu Dragnea, dem die Staatsanwaltschaft Anstiftung zum Amtsmissbrauch vorwirft.
Zwischen 2006 und 2013 soll Dragnea als Kreisratsvorsitzender das Jugendamt in seiner Heimatstadt Alexandria dazu gedrängt haben, fiktives Personal aus der öffentlichen Kasse zu bezahlen. Laut der Anklageschrift sollen mehrere Angestellte demnach gar nicht im Jugendamt, sondern in der PSD-Parteifiliale gearbeitet haben. Sehr wahrscheinlich werden ihn die RichterInnen deswegen noch in diesem Jahr zu einer Haftstrafe verurteilen – denn Dragnea ist bereits wegen Wahlfälschung vorbestraft und auf Bewährung. Mit der neuen Verordnung wäre dem PSD-Vorsitzenden der Prozess erspart geblieben.
Und damit wäre Liviu Dragnea bei weitem nicht der Einzige gewesen: Zahlreiche amtierende oder ehemalige Ministerinnen, Bürgermeister und Abgeordnete haben ihre Verwandten und GeschäftspartnerInnen begünstigt, Luxuswagen aus EU-Geldern gekauft oder Aufträge überteuert vergeben. Ähnlich wie Dragnea wären sie ihre Probleme mit der Gesetzesänderung losgeworden.
Chefstaatsanwältin Laura Codruta Kövesi, die Leiterin der gefürchteten Sonderabteilung für die Bekämpfung der grossen Korruption (DNA), kritisierte die geplante Gesetzesänderung aufs Schärfste. Den Schaden, der dadurch entstanden wäre, schätzt sie auf etwa eine Milliarde Euro, da auch bereits laufende Verfahren eingestellt worden wären. «Dragnea, Laura wartet auf dich» gehört mittlerweile zu den Lieblingsrufen der Strasse.
«Sehr besorgt»
Die bürgerliche Opposition stellte einen Misstrauensantrag, der allerdings kaum realistische Erfolgschancen hat. Denn die sozialdemokratische PSD verfügt im Parlament zusammen mit der mit ihr verbündeten sozialliberalen ALDE über eine stabile Mehrheit. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker zeigte sich «sehr besorgt» über die Entwicklungen in Rumänien. Ähnliche Zweifel äusserten auch die Regierungen und Botschaften der USA und der grossen EU-Länder. Der Kampf gegen die Korruption müsse weitergehen, so der Tenor.
In den Augen der EU-Kommission – aber auch vieler RumänInnen – hat die DNA in den letzten Jahren bedeutende Ergebnisse erzielt. Die Behörde hat Dutzende PolitikerInnen und Beamte, darunter auch zwei frühere Ministerpräsidenten, angeklagt. In den meisten Fällen bestätigten die Gerichte die Anschuldigungen, und es kam zu rechtskräftigen Verurteilungen.
KritikerInnen weisen aber darauf hin, dass das Strafmass von bis zu sieben Jahren Haft für Amtsmissbrauch «drakonisch» sei – jedenfalls viel höher als in den meisten anderen EU-Ländern. Zudem wird der DNA oft vorgeworfen, dass sie politisch motiviert gegen sozialdemokratische PolitikerInnen ermittle und VertreterInnen des bürgerlichen Lagers schone. In der Tat kamen PSD-Mitglieder häufiger als ihre GegnerInnen ins Visier der StaatsanwältInnen.
Seit Rumänien 2007 der EU beigetreten ist, kontrolliert Brüssel regelmässig dessen Fortschritte bei der Korruptionsbekämpfung. Der EU-Rat bindet dieses Thema seit Jahren an den Schengen-Beitritt. Formelle Grundlagen gibt es dafür jedoch keine: Das Land erfüllt seit langem alle Bedingungen, um Mitglied der passkontrollenfreien Zone zu sein. Doch obwohl rumänischen StaatsbürgerInnen die Einreise in Schengen-Länder nicht verwehrt werden darf, müssen sie trotzdem an der Grenze ihren Ausweis zeigen. Das hinterlässt bei vielen den Eindruck, als «EuropäerInnen zweiter Klasse» behandelt zu werden. Zugleich funktioniert es als effizientes politisches Mittel, um den internen Druck auf die Politik zu erhöhen: «Tschüss Schengen, dafür sind wir zu korrupt» steht auf einigen Transparenten der DemonstrantInnen.
Mehr Skepsis und Ironie
«Wollen wir eine starke, ernst zu nehmende europäische Nation sein oder eine, die keinen Respekt verdient?», fragte Staatspräsident Klaus Johannis im Parlament. Johannis präsentiert sich als Garant der Korruptionsbekämpfung. So rief er am vergangenen Dienstag die Abgeordneten dazu auf, eine Lösung für die politische Krise zu finden, die sie selbst ausgelöst hätten. Die ParlamentarierInnen der PSD verliessen daraufhin den Plenumssaal. Für Neuwahlen sei es zwar noch zu früh, sagte Johannis, aber der allfällige Rücktritt des Justizministers sei zu wenig. Der Präsident forderte damit implizit die Bildung einer neuen Regierung und stellte sich deutlich auf die Seite der DemonstrantInnen.
Inwiefern dies den Konflikt zwischen den SozialdemokratInnen und ihren GegnerInnen entschärfen kann, blieb unklar. Zumal er die tiefen Spaltungen innerhalb der Gesellschaft widerspiegelt – zwischen den Verlierern und den Gewinnerinnen der Transformation.
Klar ist hingegen, dass man die präsidiale Inszenierung mit einem Hauch von Skepsis und Ironie betrachten sollte: Denn der Staatschef selbst ist in eine Immobilienaffäre um ein gefälschtes Testament verwickelt – nur geniesst er laut Verfassung während seiner Amtszeit absolute Immunität.