Wer regiert die Schweiz?: Streifzüge durch die Wucherungen der Macht
Der Soziologe Ueli Mäder und seine Mitarbeiter untersuchen in ihrem neuen Buch «macht.ch», wer in der Schweiz zwischen Hodler und Hedgefonds den Ton angibt. Und wo die Macht am meisten wächst.
Macht haben heisst, seine eigenen Interessen gegen andere durchsetzen zu können. So sah es nicht nur der Soziologe und Nationalökonom Max Weber. Das sagt uns auch unsere persönliche und politische Lebenserfahrung. In seinem Buch «macht.ch» beschränkt sich Ueli Mäder aber nicht auf diese klassische Definition. Unter Berufung auf Michel Foucault betont er auch das Unfassbare, die Komplexität und Wandelbarkeit von Macht. Dafür verwendet er ein Sinnbild aus der Natur, das Rhizom. In den 1970er Jahren hatten Gilles Deleuze und Félix Guattari die Macht so beschrieben: ein unübersichtliches Gewirr von Erdsprossen, die unter oder knapp über dem Boden wuchern und sich ständig neu verweben und teilen.
Macht des ökonomischen Denkens
In diesem üppigen theoretischen Rahmen arbeiten Mäder und sein Team mit den vielfältigsten Methoden. Rund 200 Interviews mit machtkundigen Personen, Analysen von Medien und von einzelnen Texten unterschiedlicher Qualität sowie die eigene teilnehmende Beobachtung erkunden das komplexe Gebiet. Dieser Reichtum an Material und Perspektiven ist zugleich eine Stärke und eine Schwäche des Buchs. Die Fülle erlaubt zahlreiche differenzierte, detaillierte und manchmal überraschende Einblicke in die Dynamik und Wirkungsweise von Macht. Man begreift schnell, dass Macht nicht einfach in der Bundesversammlung oder bei den Verwaltungsräten von Grosskonzernen zu verorten ist, sondern auch unterschwellig wirkt und das Spektrum der Ideen beeinflusst, das von der Öffentlichkeit akzeptiert wird. Doch macht die methodische Vielfalt die «gezielten Streifzüge» der Soziologen durch die Machtgefilde von Banken, Unternehmen, Gewerbe und Gewerkschaften, Interessenverbänden und Denkfabriken auch anstrengend. Es fühlt sich zuweilen an wie ein Irrgang auf schwankendem Grund.
Auf über 500 Seiten überschwemmt die Machtanalyse zwischen «Hodler und Hedgefonds» die Lesenden mit Namen wichtiger Personen und Institutionen, statistischen Zahlen, historischen Daten, biografischen oder institutionellen Anekdoten, organisatorischen und seltener politischen Verortungen. Die Rezensentin kann nur hoffen, dass sich die vielen disparaten Einzelheiten mit der Zeit im Gedächtnis etwas ordnen werden. Und sie nimmt sich vor, das informative Buch wie ein Lexikon zu nutzen, wenn sie das nächste Mal über Macht in der Schweiz schreibt.
Einzelne Aha-Momente sind sofort abrufbar. Vorab natürlich diese Zahl: 1989, beim Fall der Berliner Mauer, verfügten die 300 Reichsten in der Schweiz über 82 Milliarden Franken Vermögen. Nach 25 Jahren entfesseltem Kapitalismus sind es bereits sieben Mal mehr, 589 Milliarden. Der ehemalige Novartis-Chef Daniel Vasella, selber Mitglied im Exklusivklub der 300, meint dazu, die Ungleichheit dynamisiere unsere Gesellschaft. Welche gewaltige soziale Sprengkraft muss es also haben, wenn sich die Wertschöpfung der Realwirtschaft zwischen 1990 und 2010 verdreifacht hat, die der Finanzwirtschaft in der gleichen Zeit verhundertfacht!
Ob es um die rasante Zunahme privater Zuwendungen an die Schweizer Unis geht, um den enormen Zuwachs finanzkräftiger Stiftungen nach 1993 oder darum, dass in der säkularisierten Schweiz immer mehr Kirchensteuern nicht von Privatpersonen, sondern von Grossunternehmen bezahlt werden (in der Rohstoffhandelsstadt Zug sind es 43 Prozent!) – die meisten Zahlen in «macht.ch» belegen den gleichen Trend: die zunehmende «Macht des ökonomischen Denkens». So heisst denn auch das Schlusskapitel, das man besser zu Beginn lesen sollte. Der Soziologe Peter Streckeisen schreibt dazu: «Vielleicht ist die Verbreitung des Neoliberalismus ja direkt mit einem Prozess verbunden, aufgrund dessen in politischen und staatlichen Schlüsselstellen in zunehmendem Ausmass Personen zu finden sind, die auf je spezifische Weise ‹ökonomisch denken›.»
Macht der Gewohnheit
Seine These belegt er mit biografischem Material. Mit zunehmender Dominanz der Finanzwirtschaft über Politik und Realwirtschaft hat sich auch das verantwortliche Personal auf den Chefetagen, in den Verwaltungen und selbst an der Gewerkschaftsspitze gewandelt beziehungsweise angeglichen. Weitgehend passé sind die in diesem Buch etwas verklärten verantwortungsbewussten Patrons und BeamtInnen. Heute ist generell der Typus des wendigen Managers, der ehrgeizigen Managerin gefragt, der oder die das Unternehmen, die Gewerkschaft oder die Behörde effizient führt, mit klaren Vorgaben und kurzfristigen Erfolgszielen – und dabei immer auch die eigene Karriere optimiert. Statt endlos langen kleinsprossigen Karriereleitern ist heute das Modell «Drehtür» angesagt: Die Kader wechseln vor allem zwischen Privatwirtschaft und öffentlicher Verwaltung hin und her und verbinden so die Machtbereiche.
Drei von vier der lesenswerten Fallstudien im zweiten Teil des Buchs befassen sich mit den klassischen Machtkolossen Banken/Bankenaufsicht (Autor: Peter Streckeisen), der Nationalbank (Gian Trepp) und dem Rohstoffkonzern Glencore (Ganga Jey Aratnam). Sie bestätigen und vertiefen das wohl bei den meisten WOZ-LeserInnen bestehende Vorwissen. Doch was wissen Linke schon über den Schweizerischen Gewerbeverband (SGV)? Markus Bosserts Beitrag macht bewusst, wie mächtig die Lobbyingorganisation für kleine und mittlere Unternehmen (KMU) in der Schweiz nach wie vor ist. Mag sein, dass der Einfluss des Gewerbeverbands im Parlament ein wenig abgenommen hat und dass seine dezidierte Abgrenzung gegenüber den Grosskonzernen (Abzockerinitiative) seine wirtschaftspolitische Macht ebenfalls schwächt. Doch die Schweiz bleibt ein ausgesprochenes KMU-Land: 99,8 Prozent der Betriebe beschäftigen weniger als 250 Angestellte, bei 92,3 Prozent der Unternehmen sind es weniger als zehn Personen. Der SGV ist nach wie vor der grösste Wirtschaftsverband der Schweiz und vertritt insgesamt 500 000 Firmen, in denen zwei Drittel aller Erwerbstätigen beschäftigt sind.
Keine Partei und keine andere Interessenorganisation verfügt über so weitverzweigte, gesellschaftlich fest eingebettete Netzwerke wie der SGV. Gemäss Bossert funktioniert der Gewerbeverband wie eine repräsentative Demokratie – allerdings eine ohne Linke. Diese rein bürgerliche Zusammensetzung ist politisch deshalb brisant, weil der SGV beziehungsweise seine KMU im Verbund mit Bund und Kantonen gut siebzig Prozent aller Lehrlinge in der Schweiz ausbilden. Über 75 000 Jugendliche, etwa zwei Drittel jedes Jahrgangs, treten jedes Jahr in die berufliche Grundausbildung ein. Die Mehrheit von ihnen wird in dieser wichtigen Lebensphase dann in einem Milieu sozialisiert, das sich geschlossen gegen links stellt. Die rechtsbürgerliche neoliberale ökonomische Doktrin – Steuersenkungen für die Reichen und Sozialleistungsabbau für die Armen – gehört für die jungen Frauen und Männer in der Schweiz sozusagen zu ihrer KMU-Grundausbildung. Und wird später bei vielen – ob als Chefin eines KMU oder als Angestellte – zur Macht der Gewohnheit.
Macht ohne Frauen
Nicht alle Rhizome im Buch gedeihen gleich gut. Ein paar Sprossen wuchern wild, weil sie opulente Nahrung haben. Wieso hier etwa den geldgierigen Erblassverwaltern in Basel so viel Platz eingeräumt wird, ist nicht klar, ausser dass es reichlich Informationen über ihre überrissenen Honorare gab. Das Stängelchen über Frauen und Macht hingegen serbelt so kümmerlich vor sich hin, dass man ihm den Gnadenschnitt hätte verpassen sollen. Insbesondere da die Genderfrage später nicht mehr thematisiert wird. Frau kann das akzeptieren. Ueli Mäder und seine Mitsoziologen, alle namentlich genannten Autoren sind Männer, wollen soziale Realitäten stimmig erfassen und nicht ein feministisches Manifest schreiben. Ihr Thema ist die Macht, wie sie ist, nicht wie sie sein soll. Und doch sei Mäder hier an seine eigenen Worte erinnert. Zur Frage, wie politisch eine wissenschaftliche Studie sein darf, schreibt er: «Aufgepasst, die markierte Distanz zum Normativen stärkt oft unbemerkt herrschaftslegitimierende Ideologien. Was dem Mainstream entspricht, erscheint bereits als objektiviert.»
Neben der Absenz der Frauen fällt auf, dass die begriffliche Ausdifferenzierung von Macht am Buchanfang bald einmal im Rhizom tatsächlicher Machtverhältnisse erstickt. Auch wirkt das methodische Füllwerk – etwa die langfädigen Interviewausschnitte im O-Ton und die zahlreichen Anekdoten über persönliche Begegnungen mit Mächtigen – auf die Dauer etwas ermüdend. Doch durchhalten lohnt sich, wenn das Thema «Macht und Geld in der Schweiz» fundiert untersucht wird. Und zwar von einem Soziologen, der seine Arbeit bei aller Wissenschaftlichkeit doch mit der Hoffnung tut, dass seine machtkritischen Analysen demokratische Teilhabe und emanzipatorisches Engagement stärken.
Ueli Mäder: macht.ch. Geld und Macht in der Schweiz. Rotpunktverlag. Zürich 2015. 512 Seiten. 40 Franken