Marokko: Neue solare Supermacht
Marokko setzt auf Sonnenenergie: In diesen Tagen wird im Atlasgebirge das grösste Solarkraftwerk seiner Art eröffnet. Das nordafrikanische Land will Technologie und Strom exportieren und so zum Industriestaat werden.
In den 500 000 beweglichen Parabolspiegeln, die in 800 Reihen auf dem rötlichen Wüstensand Marokkos stehen wie die Segel einer futuristischen Flotte, spiegelt sich die gleissende Sonne. Am Horizont erheben sich die schneebedeckten Gipfel des hohen Atlasgebirges, der Himmel ist – wie meistens auf der Hochebene rund um die Stadt Ouarzazate – wolkenlos. Vor dieser atemberaubenden Kulisse fahren hektisch Bulldozer auf, Kräne heben Paletten, IngenieurInnen rufen sich letzte Anweisungen zu. In diesen Tagen wird Marokkos König Mohammed VI. den ersten Abschnitt der Anlage eröffnen, die schlicht «Noor» genannt wird, arabisch für Licht. Die bereits installierten Parabolspiegel haben eine Leistung von 160 Megawatt, bis 2020 sollen es 580 Megawatt sein. Eine Million Haushalte würden dann aus der Wüste versorgt, verspricht Bauleiter Victor Caballero.
Energiepolitischer Konsens
Mit Solarzellen, wie sie von Schweizer Dächern bekannt sind, hat die im ersten Abschnitt verwendete Technologie nichts gemein. Noor 1 ist ein Parabolrinnenkraftwerk, in dem das Sonnenlicht von neun Meter hohen Spiegeln auf Röhren mit synthetischem Öl gelenkt wird, das fast 400 Grad heiss wird. Das Öl bringt im eigentlichen Kraftwerk Wasser zum Verdampfen, und der Dampf treibt eine Turbine an, die Strom erzeugt. «Marokko macht wirklich bedeutende Fortschritte mit dieser modernen Solartechnologie», sagt Caballero. «Spanien hat früher mal mehr getan, aber im Moment sind keine neuen Anlagen in Sicht, schon gar nicht in dieser Grösse.» Marokko ist auf dem Weg zur solaren Supermacht.
An der Front des Hochhauses in der Hauptstadt Rabat, in dem Marokkos staatliche Solarenergieagentur Masen ihren Sitz hat, spiegelt sich die untergehende Sonne ähnlich wie in den Parabolspiegeln 500 Kilometer weiter südlich. Im zwölften Stockwerk sitzt Mustapha Bakkoury an einem schweren Tisch aus poliertem Holz. Der fünfzigjährige Ingenieur ist ein einflussreicher Mann. Er gilt als enger Vertrauter des Königs, der seit Beginn der Umwälzungen in Nordafrika 2010 zwar Macht abgegeben hat, aber immer noch die Fäden zieht. Bakkoury ist Generalsekretär der royalistischen Partei PAM und hat jahrzehntelang im Bankensektor gearbeitet – zuletzt als Chef der staatlichen Investitionsbank. Dass er seit Ende 2009 Masen leitet, gilt nicht nur MarokkanerInnen als Beleg dafür, dass die Politik es ernst meint mit der Energiewende. «Wir haben einen gemeinsamen Traum», formuliert es Bakkoury. «Es gibt einen absoluten Konsens für unsere Energiepolitik: Das Solarkraftwerk Noor wird fertiggestellt.»
Das solarthermische Kraftwerk ist zentraler Baustein einer Energiestrategie, nach der 2020 mehr als vierzig Prozent des Stromverbrauchs Marokkos aus erneuerbaren Quellen stammen sollen. Noch sind es knapp drei Prozent. «Die Energiestrategie 2020 ist die Grundlage für einen Aufschwung», ist sich Bakkoury sicher. «Die ganze Bevölkerung wird von der Transformation unserer Wirtschaft profitieren.»
Von Protesten weiss Mustapha Bakkoury nichts zu berichten. Das ist kein Wunder, denn der gemeinsame Traum ist von ganz oben verordnet worden, Kritik ist nicht vorgesehen.
Dabei gäbe es durchaus alternative Wege, erneuerbare Energien in Marokko zu fördern, glaubt Stefan Schurig, der sich als Energiedirektor beim Weltzukunftsrat auch in Marokko für die Umstellung auf erneuerbare Energien starkmacht. «Noor ist vielleicht ein Vorbild für zentrale Grosskraftwerke, aber mindestens genauso wichtig wäre es, man würde die Marokkaner in die Lage versetzen, selbst Energie für den eigenen Bedarf oder die Einspeisung ins Netz zu produzieren.» Viele dezentrale Solaranlagen und Anreize durch eine Einspeisevergütung würden die Umstellung auf Erneuerbare beschleunigen. «Es gäbe auch keinen Neid und keine soziale Spaltung, wie sie bei Noor droht», sagt Schurig, «einfach weil bei einer Grossanlage nicht jeder profitiert – bei dezentralen Anlagen gewinnen alle.» Für Schurig ist das besonders sinnvoll, gerade weil Marokkos Regierung die Energiewende als sozioökonomisches Transformationsprojekt versteht.
Kosten von 12,5 Milliarden Franken
Tatsächlich soll die Energie aus erneuerbaren Quellen Marokko von einem Schwellen- zu einem Industrieland machen. Mit dem neuen Strom soll die Wirtschaft diversifiziert werden. Statt Landwirtschaft, Fischerei und Tourismus sollen Industrie und Dienstleistungen blühen.
Schon jetzt steigt der Energieverbrauch jährlich um mehr als sechs Prozent. 2010 waren Kraftwerke mit einer Leistung von 6400 Megawatt installiert. Bis 2020 soll der Kraftwerkspark mehr als verdoppelt werden und eine Kapazität von 14 300 Megawatt aufweisen; 6000 Megawatt davon, so will es die Energiestrategie, müssen aus erneuerbaren Quellen stammen. Das soll auch den Staatshaushalt entlasten. Der Import von Öl und Gas kostet jährlich Millionen und macht das Land abhängig vom guten Willen seiner Nachbarn, vor allem Algeriens. Dafür nimmt Marokko viel Geld in die Hand. Umgerechnet knapp 12,5 Milliarden Franken kostet der Aufbau des marokkanischen Energiewunders. Investitions- und Geschäftsbanken aus Europa, Afrika, Asien und dem Nahen Osten haben angelegt. Grösste Investorin ist die staatliche deutsche KfW-Entwicklungsbank, die umgerechnet drei Milliarden Franken an zinsgünstigen Krediten bereitstellt. Garantiert werden die enormen Summen durch den marokkanischen Staat.
Allein wegen der Jobeffekte sei das gerechtfertigt, meint Mustapha Bakkoury. «Schon jetzt arbeiten 2000 marokkanische Arbeiter auf der Baustelle von Noor», rechnet er vor. «Im Moment ist das nur ein knappes Drittel der Gesamtbelegschaft, aber wir werden den Anteil von Marokkanern schrittweise erhöhen.» Nach 2020 sollen möglichst alle Angestellten im Werk MarokkanerInnen sein. «Wir rechnen mit mehr als 500 Arbeitsstellen allein in Noor.» Noch mehr Arbeit wird nach Ansicht Bakkourys dadurch entstehen, dass die in Noor gewonnene Erfahrung exportiert werden kann – etwa in Marokkos Nachbarstaaten, die ebenfalls mehr Energie benötigen. Wolfgang Reuss, Direktor der KfW-Entwicklungsbank für die Region, hält das für realistisch. «Wir haben für Tunesien wie auch für Ägypten bereits Machbarkeitsstudien für Solarkraftwerke erstellt», so Reuss.
Furcht vor Wasserknappheit
Das Noor-Kraftwerk ist für Marokkos Regierung ein Vorzeigeprojekt. Dazu gehören auch Modelltechnologien wie ein Salzspeicher, in dem die Solarenergie nachts bereitgehalten werden kann, und ein Solarturmkraftwerk, in dessen Zentrum der mit 240 Metern höchste Turm Afrikas stehen soll. Was diese riesige Anlage für die Bevölkerung vor Ort bedeutet, hat eine Studie des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt, Energie sowie der Entwicklungs- und Umweltorganisation Germanwatch für das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit untersucht. Beide Organisationen sind als kritische Stimmen bekannt. Grundsätzlich bescheinigt die Studie grosse Vorteile für die regionale Entwicklung. So seien neben neuen Arbeitsplätzen auch Schulen, Krankenhäuser und soziale Einrichtungen entstanden, von denen alle profitierten. Auf der anderen Seite gebe es aber auch Ängste, die oft Folge fehlender Kommunikation seien, sagt Mitautor Thomas Fink vom Wuppertal-Institut.
Wasser ist knapp in der Region. Doch um die Anlage zu kühlen, wird Wasser gebraucht. Geschätzte 1,75 Millionen Kubikmeter müssen dafür jährlich aus dem Mansour-Eddahbi-Stausee entnommen werden, der auch die Bewässerung von sechs Oasen sicherstellt. Thomas Fink betont, der Wasserverbrauch sei mit einem Anteil von 0,7 Prozent der jährlich im Durchschnitt verfügbaren Wassermenge zwar gering. «Aber die Ängste muss man ernst nehmen, zumal mögliche künftige Wasserknappheiten etwa durch Landwirtschaft oder Klimawandel schwer kalkulierbar sind.» Befragungen von Germanwatch in der Oase Agdz, die vom Stausee aus gesehen hinter Noor liegt, belegen die Furcht, das überlebenswichtige Wasser könnte ausbleiben.
Insgesamt seien die AnrainerInnen aber hochzufrieden, viele sogar stolz, so Fink. Das gilt auch für den Landkauf, auch wenn die AutorInnen der Studie künftig mehr Transparenz und Mitsprache etwa bei der Projektplanung fordern. «Ein thermisches Solarkraftwerk verbraucht aufgrund des damit gekoppelten Solarfelds mehr Fläche als ein vergleichbares konventionelles Kraftwerk, deswegen ist es wichtig, darauf zu achten», betont Fink. Im Vergleich zu anderen erneuerbaren Energien haben solarthermische Kraftwerke allerdings die günstigste Flächenbilanz, wie Studien zeigen. In Noor wurde das Land zudem landwirtschaftlich kaum genutzt. «Aber beispielsweise haben sich Wege verlängert, weil man das Kraftwerk jetzt umrunden muss», sagt Fink.
Ein weiteres denkbares Problem: Das verwendete thermische Öl ist toxisch. Sollten die vor den Parabolspiegeln angebrachten Röhren beschädigt werden, müsste das Öl sachgemäss entsorgt werden. Aussagen dazu sind in der Studie von Wuppertal-Institut und Germanwatch nicht enthalten. «Im nächsten Block von Noor wird das Öl allerdings durch unbedenklichere Salze ersetzt werden, so wie auch Trockenkühlung eingesetzt wird, für die kein Wasser mehr gebraucht wird», sagt Thomas Fink. Unter dem Strich ist er sicher: «Die positiven Auswirkungen für die Bevölkerung überwiegen klar.»
Ökostrom für Europa?
Vom Strom aus der Wüste soll nicht nur die städtische Mittelschicht, sondern auch die arme Bevölkerung auf dem Land profitieren, die in den vergangenen Jahren ans Netz angeschlossen wurde. Der Grundverbrauch wird hoch subventioniert. Den BetreiberInnen von Noor musste die marokkanische Regierung einen festen Abnahmepreis garantieren, die Differenz wird aus dem Staatshaushalt beglichen. Mohammedi Allach, Vizegeneraldirektor des staatlichen Strom- und Wasserversorgers Onee, sieht das als Investition in die Zukunft. «Die Subventionen werden mit der Zeit sinken», verspricht er. «Die Technologie wird sich weiterentwickeln, und damit werden die Erzeugungspreise nach unten gehen.»
Für diesen Zeitpunkt hat Masen-Chef Bakkoury bereits grosse Pläne. Er will Ökostrom nach Europa exportieren. «Jedes europäische Land muss in fünf Jahren zwanzig Prozent seines Energieverbrauchs aus erneuerbaren Quellen bestreiten, und es gibt europäische Staaten, die das nicht schaffen werden», weiss Bakkoury. Das Kabel für den marokkanischen Strom unter der Strasse von Gibraltar liegt jedenfalls schon.
Marc Engelhardt berichtet seit mehr als zehn Jahren aus Afrika. Das Solarkraftwerk Noor, das derzeit öffentlich noch nicht zugänglich ist, hat er im Rahmen einer Pressereise der KfW-Entwicklungsbank besucht.