Uno-Mission in Libyen: «Die Milizen müssen sich der Politik unterordnen»

Nr. 15 –

Der deutsche Spitzendiplomat Martin Kobler über die neue libysche Einheitsregierung, den Vormarsch des IS und die geplante westliche Militärintervention.

Dreigeteiltes Land (grosse Ansicht der Karte). Karte: WOZ; Quellen: @arabthomness, ISW, Wikipedia

Klammheimlich legte am 31. März ein libysches Marineboot an der tunesischen Küste ab und brachte einen Mann nach Tripolis, der in Libyen einen neuen Staat aufbauen soll: Fajis al-Sarradsch, Ministerpräsident einer Regierung, die es bisher nur auf dem Papier gibt. Faktisch hat das nordafrikanische Land seit zwei Jahren zwei Regierungen und zwei Parlamente: International anerkannt ist das gewählte Parlament, das in Tobruk im Nordosten des Landes seinen Sitz hat und eine Regierung gebildet hat, die im 220 Kilometer weiter westlich gelegenen al-Baida amtet. International nicht legitimiert ist hingegen die islamistisch geprägte Regierung in der Hauptstadt Tripolis.

Bereits im vergangenen Jahr hatten sich Delegationen beider Seiten auf Sarradsch als neuen Ministerpräsidenten geeinigt: Am 17. Dezember 2015 war in Marokko ein Abkommen geschlossen worden, um die Spaltung des Landes zu überwinden. Doch als Sarradsch Anfang April in Libyen eintraf, forderte ihn das Oberhaupt der islamistisch geprägten Regierung in Tripolis, Chalifa al-Ghweil, zunächst auf, «aufzugeben und zu verschwinden». Am 5. April verzichtete Ghweil, «um Blutvergiessen zu vermeiden», jedoch auf sein Amt, nur um einen Tag später seine Entscheidung zu widerrufen und allen, die mit Sarradsch zusammenarbeiteten, mit Strafverfolgung zu drohen.

Vermittelt hatte das jetzt wieder gefährdete Abkommen im Wesentlichen die Uno, die seit 2011 die Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (UNSMIL) unterhält. Die WOZ hat Martin Kobler, seit November 2015 Leiter der Mission, getroffen.

WOZ: Herr Kobler, Sie sind in Tunis stationiert, wohin sich die UNSMIL 2014 aus Sicherheitsgründen zurückgezogen hat. Wann werden Sie nach Tripolis umziehen?
Martin Kobler: Wir fliegen wieder regelmässig nach Tripolis. Aber die meisten von uns – wir sind über 150 Leute – bleiben vorerst in Tunis. Noch gibt es in Tripolis Probleme mit der Logistik und vor allem mit der Sicherheit.

Sie waren erst kürzlich in Tripolis. Wie sicher ist die Stadt?
Es gibt keine einheitliche Armee oder Polizei, die die Sicherheit in der Stadt gewährleistet: Tripolis wird von Milizen beherrscht. Aber zurzeit ist die Lage ruhig, die Milizen halten sich zurück. Das kann jedoch schon morgen wieder anders sein.

Konnten Sie überhaupt durch die Strassen gehen und mit Zivilisten reden?
Ich suche bei meinen Reisen immer den Kontakt mit der Bevölkerung – und strapaziere so die Geduld meines Sicherheitspersonals. Letzte Woche ging ich in die Altstadt, war auf dem Platz der Märtyrer, habe auf dem Markt einen Kaffee getrunken und mit Dutzenden Leuten gesprochen. Die Menschen sind müde. Sie wollen, dass jemand die Geschicke des Landes wieder in die Hand nimmt, und sie setzen grosse Hoffnung in die neue Einheitsregierung.

Fajis al-Sarradsch, der Ministerpräsident dieser neuen Einheitsregierung, ist vor zwei Wochen in Tripolis eingetroffen. Der bisherige Ministerpräsident der international nicht anerkannten Regierung in Tripolis weigert sich jedoch, zurückzutreten. Und das international anerkannte Parlament in Tobruk hat der neuen Einheitsregierung auch noch kein Plazet gegeben. Ein schlechter Start.
So schnell geht das alles eben nicht. Nach Jahren des Chaos und der Anarchie haben wir den Einstieg in die Übergangsphase geschafft: Der von beiden Seiten im Dezember 2015 ausgehandelte neunköpfige Präsidentschaftsrat, in dem alle Landesteile vertreten sind, ist am 31. März in Tripolis eingetroffen. Nun muss er erst mal eine Regierung etablieren. Im Februar hat er eine Ministerliste zusammengestellt, über die das Parlament im Osten des Landes allerdings noch nicht abgestimmt hat. Einige der Minister sind bereits in Tripolis eingetroffen, haben aber noch nicht die Kontrolle über die Ministerien.

Die Regierung soll also nun amten, ohne vom Parlament legitimiert zu sein …
Das Parlament von Tobruk ist zwischen September 2015 und Februar 2016 überhaupt nie zusammengetreten. Als am 22. Februar ein Grossteil seiner 200 Mitglieder präsent war, störte eine Minderheit die Debatte, der Parlamentspräsident schloss deshalb die Sitzung und fuhr nach Kairo. Es kam zu keiner Abstimmung über die neue Einheitsregierung. Doch 101 Parlamentarier, die abstimmen wollten, haben schriftlich zu Protokoll gegeben, dass sie für die Einheitsregierung votiert hätten, wenn sie denn gedurft hätten.

Aber auch die islamistisch geprägte Regierung in Tripolis tut sich schwer mit der Anerkennung einer Einheitsregierung – vor allem, so scheint es, weil der Osten an Chalifa Haftar als Armeechef festhält, der nicht nur gegen den IS, sondern gegen alle Islamisten kämpfen will.
Es obliegt dem neuen Verteidigungsminister, eine Armee zu organisieren und die Besetzung der Spitzenpositionen auszuhandeln. Nun sagen manche: Mit Haftar kann es keine Zukunft geben. Andere wollen im Gegenteil, dass er für ganz Libyen zuständig wird. Haftar ist jedenfalls ein Faktor im Osten, genauso wie die Muslimbrüder ein Faktor im Westen sind. Wir sollten nicht vorab Personen ausgrenzen – mit Ausnahme jener, die für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind und vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag gehören. Unter den Ministern der neuen Einheitsregierung sind auch Leute der alten Garde des ehemaligen Machthabers Muammar al-Gaddafi. Das ist gut so. Wir haben ja im Irak gesehen, was passiert, wenn man die alten Garden ausgrenzt.

Das Ausland drängt wohl vor allem deshalb auf die Installierung einer Einheitsregierung, um – von dieser gebeten – militärisch gegen den IS intervenieren zu können und den Schmuggel von Flüchtlingen in libyschen Gewässern zu bekämpfen.
Ja, Europa hat ein Interesse daran, Flüchtlingsbewegungen zu unterbinden. Aber es geht um mehr: Vor drei Wochen fanden in Tunis eine Konferenz der Nachbarstaaten Libyens und im ägyptischen Scharm al-Scheich eine Konferenz der Verteidigungsminister der Länder der Sahara und der Sahelzone statt. Alle Redner waren höchst beunruhigt über den Vormarsch des IS in Libyen – und der Ansicht, dieser müsse gestoppt werden. Dem IS haben sich in Libyen mehrheitlich Ausländer angeschlossen, vor allem aus arabischen Ländern.

Vor einem Monat drang er nach Tunesien ein, um ein kleines Kalifat aufzubauen. Der Versuch misslang. 45 Islamisten wurden getötet, die meisten waren Tunesier, die aus Libyen eingesickert waren. Aber primär drängen die Libyer selber auf eine funktionierende Regierung. Es gibt Leute, die sich das Zahngold herausbrechen, um an Geld zu kommen, um die immer teurer werdenden Lebensmittel zu kaufen. Die humanitäre Lage im Land ist katastrophal.

Wird es eine militärische Intervention in Libyen geben?
Der politische Prozess kommt im Schneckentempo voran, und der IS, der einen Küstenstreifen von 200 Kilometern Länge kontrolliert, breitet sich schnell aus und bedroht bereits auch die Ölfelder im Süden des Landes. Deshalb muss jetzt eine Armee aufgebaut, nach Aufhebung des Waffenembargos angemessen bewaffnet und im Antiterrorkampf ausgebildet werden. Doch zuvor wird der Präsidentschaftsrat in Tripolis eine neue Regierung installieren müssen – ohne deren Billigung kann es keine militärischen Aktionen geben.

Und die Milizen?
Sie müssen mittelfristig ins zivile Leben oder in die Armee integriert werden, sich der Politik unterordnen. Doch das geht nicht über Nacht.

Aber kurzfristig braucht man sie, um den Vormarsch des IS zu stoppen.
Noch hat der IS keine nennenswerten Einnahmen aus dem Ölgeschäft. Er versucht aber, die Pipelines, die Ölförderanlagen und Verladestationen anzugreifen. Diese und auch die Ölfelder werden von einer Miliz im Dienst der Nationalen Ölgesellschaft (NOC) geschützt. Ihre Mitglieder erhalten doppelt so viel Lohn wie die Soldaten und Milizionäre. Alle bewaffneten Einheiten wurden bislang von den beiden Regierungen bezahlt. Das wird sich ändern, weil sich die Zentralbank, an die die NOC ihre Gewinne abführt, dem neuen Präsidentschaftsrat unterstellt hat. Alle Regierungsfonds wurden eingefroren. Gelder fliessen nur noch mit Genehmigung des Präsidentschaftsrats.

Mit der Installierung des Präsidentschaftsrats hat die Uno-Mission nun den Einstieg in den Übergangsprozess geschafft, an dessen Ende dann eine neue Verfassung stehen soll.
Einen Entwurf der künftigen Verfassung gibt es schon. Darin steht nicht mehr «Libysche Arabische Republik», sondern nur noch «Libysche Republik». Es gibt unter den Libyern nicht nur Araber, sondern auch Berber, Tuareg und kleinere Minderheiten, die sich im neuen Libyen mit ihrer Identität aufgehoben fühlen müssen. Die Uno-Mission versteht sich zwar als unabhängig, aber nicht als neutral. Wenn es um Minderheiten, sozial Schwache oder um die Position der Frauen geht, machen wir schon den Mund auf. Ich habe auch eine 30-Prozent-Frauenquote für das neue Kabinett gefordert.

Und wie viele Frauen gibt es in der neuen Regierung?
Nur eine einzige – das ist eine grosse Enttäuschung!

Martin Kobler

Seit November 2015 leitet der deutsche Spitzendiplomat Martin Kobler die Uno-Mission für Libyen (UNSMIL). Als «Feuerwehrmann» der internationalen Politik hat der 1953 geborene Schwabe bereits reichlich Erfahrung. Vor seiner Karriere bei den Vereinten Nationen war Kobler als Mitglied der Grünen von 1998 bis 2005 Büroleiter des deutschen Aussenministers und Vizekanzlers Joschka Fischer, danach deutscher Botschafter in Ägypten und im Irak. Später leitete er die Uno-Missionen in Afghanistan und im Irak. Und 2013 bis 2015 führte Kobler als Uno-Chef im Kongo 20 000 Blauhelme, davon 3000 mit Kampfauftrag. Es war die bisher grösste Uno-Mission überhaupt.