Von oben herab: Der Plastikgraben
Stefan Gärtner über echte und andere Bäume
Natürlich habe ich einen Weihnachtsbaum. Wer ein Kind hat, hat einen, und dass ich ganz und gar gottlos bin, macht nichts, denn bekanntlich ist der Baum so wenig christlich wie das Osterei. Es ist eine liebe Gewohnheit, mindestens wenn man Kinder hat, wie überhaupt Weihnachten eine Kinderveranstaltung ist, und zwar im umfassenden Sinn.
Als ich Kind war, war der Plastikbaum noch nicht verbreitet, allerdings trugen manche Bäume Elektrokerzen. Das kam für meine Eltern nicht infrage, wiewohl sie für Weihnachten nicht viel übrig hatten: Wenn schon Baum, dann Kerzen. Ich war dafür, denn bis zu einem gewissen Alter stellen Kinder jenseits der sog. Trotzphase die Entscheidungen ihrer Eltern nicht infrage. (Damals bis zirka 12, heute ist das Alter, wie man hört, auf 28 gestiegen.) Jedenfalls markierte das mit den Elektrokerzen einen Graben, so wie bei manchen Leuten der Klodeckel offen blieb. Es gab mithin Leute mit offenem Klodeckel und Elektrokerzen am Weihnachtsbaum, und es war dies die erste Lektion im Fach «Toleranz». Es waren ja schliesslich ebenfalls Menschen, ja sogar die Eltern meiner Freunde!
In der Schweiz, dieser wunderbar viersprachigen Willensnation, ist diese Vielfalt der staatlichen DNS eingeschrieben, sind die Unterschiede – unter der Voraussetzung, man hat einen Schweizer Pass! – nicht das, was trennt, sondern das, was eint. Weshalb die Zwischenüberschrift im «Blick»: «Plastikbäume spalten die Schweiz», auch nichts weiter als das bewährte Presseremmidemmi war. «Die Westschweizer stehen auf Plastikbäume. Über 40 Prozent der Befragten geben an, sich mit einem Kunstbäumchen zu begnügen. In der Deutschschweiz liegt die Plastikquote nur bei 15 Prozent.» Weil der Deutsche, und sei er auch Schweizer, ebendiese Urliebe zum Wald hat, aus dem er stammt, und deshalb auch, als Waldmensch, immer in diesen schratigen Funktionsklamotten herumläuft. Der Welsche dagegen hat es eher mit Zivilisation als Kultur: Wenns praktisch ist, funktioniert und leicht weggeschmissen werden kann, ist es gut, und warum den Klodeckel schliessen, wenn man ihn eh gleich wieder hochklappt? Kein Wunder, dass die Romands insgesamt europafreundlicher sind, denen kommt es halt nicht so drauf an, ob die einige, freie Schweiz von Brüsseler Eurokraten überrannt wird! Die dann normieren, wie viele Nadeln so ein Baum an der Tanne haben darf, aus Kunststoff, versteht sich, die ganze EU ist schliesslich künstlich, ein Wille ohne Nation sozusagen, und selbst der schwindet ja neuerdings.
Dennoch wollen wir den Westschweizer Messieurs Dames ihr Plastik lassen, denn es brächte ja nichts; zu alt und ewig ist der Gegensatz zwischen Geist und Politik, Seele und Gesellschaft, Rösti und Saucisson, Kunst und Literatur, und wie gross gerade dieser sein kann, weiss, wer je einem Buch von Zoë Jenny ausgesetzt gewesen ist.
Als guter Deutscher habe ich natürlich einen echten Baum mit echten Kerzen, und wenn es so weit kommen sollte, dass wegen der ganzen Asylanten (oder des Klimawandels) Weihnachten nicht mehr stattfindet, dann verzichtet die Romandie bloss auf irgendeinen Plastikbaum, und es ist ihr wurscht. Der deutschen Schweiz aber nicht: Dort glauben Vernunftmenschen nach jedem Wahltag, sie stehen im Wald (Blocher!), und so waldnah soll es doch auch bleiben, meine sehr geehrten Damen und Herren, gerade an Weihnachten.
Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.