TV-Serie «Sherlock»: Im ironiegefüllten Spiegelkabinett
Der Meisterdetektiv Sherlock Holmes spürt in der BBC-Produktion «Sherlock» seit ein paar Jahren zeitgenössischen Fällen nach. Soeben hat er wieder scharfsinnig nachgedacht. Auch über Verschwörungstheorien.
Die erste Serie, die bei der BBC in England 2010 startete, war intelligent und innovativ. «Sherlock» führte den viktorianischen Detektiv von Arthur Conan Doyle überzeugend ins 21. Jahrhundert. Es gab scharfe Dialoge, witzige Aktualisierungen und psychologische Feinheiten; filmtechnisch faszinierend wurden verschachtelte Denkprozesse vergegenständlicht und mögliche Enträtselungen der Kriminalfälle als Denktheater vorgeführt.
Dann übernahm der Hype. Die Plots wurden elaborierter, die Techniken manierierter. Sherlock Holmes starb, wie einst am Reichenbachfall, und kehrte wieder zurück. Eine Internetfanbasis begann, die Plausibilitäten der verwendeten Tricks manisch zu debattieren. Mittlerweile wird die Franchise angeblich in 200 Ländern gezeigt (die Uno hat 193 Mitglieder). Der Schauspieler Benedict Cumberbatch (Sherlock Holmes) ist damit als Superstar lanciert worden und Martin Freeman (Dr. Watson) als kleinerer Stern.
Intelligenz versus Sentimentalität
Am Neujahrstag hat die BBC nun ein «Sherlock»-Special ausgestrahlt, als Vorbereitung für die vierte Serie, die ab dem Frühjahr 2016 gedreht, aber womöglich erst 2017 zu sehen sein wird. Die Sendung, zeitgleich auch in den USA zu sehen, war ein Hit, erreichte grössere Einschaltquoten als die allerletzte Episode von «Downton Abbey», dieser schamlos nostalgischen Soap Opera der kommerziellen britischen Konkurrenz ITV, in der typisch englische Klassenkonflikte zwischen denen dort oben und uns hier unten gediegen versöhnt werden.
Na, da sind wir aber erleichtert. Intelligenz hat über Sentimentalität triumphiert.
Und intelligent ist das zweifellos. Die Episode «The Abominable Bride» beginnt zweimal. Einmal, als Sherlock Holmes den im zweiten angloafghanischen Krieg 1880 verwundeten Dr. Watson als seinen Helfer anheuert und in das Haus Baker Street 221B einzieht – also dort, wo einst die Originalgeschichten von Arthur Conan Doyle (1859–1930) im viktorianischen London begannen. Einmal zeitgenössisch, als Holmes, nachdem er in der bislang letzten Episode aus politischen Gründen verbannt worden war, im Privatjet sogleich zurückgerufen wird, um das England von heute zu retten. Die beiden Anfänge, viktorianisch und modern, sind miteinander verflochten. Wie, ist nicht ganz klar: Imaginiert der ursprüngliche Holmes die Zukunft? Oder erinnert sich der moderne Holmes an seine Vergangenheit? Ach ja, dann gibt es noch einen dritten Anfang, wenn der Erzähler Dr. Watson Sherlock immer wieder darauf hinweist, dass er den Detektiv als Kunstfigur geschaffen hat.
Das nennt sich selbstbezüglich, metanarrativ – und postmodern werden auch das Ich sowie lineare Zeit und Raum zerfasert. Sherlock träumt oder fantasiert im Kokainrausch oder rumort im eigenen Unbewussten herum; der Film reist hin und her zwischen den Zeiten, zitiert aus anderen Filmen und Zusammenhängen. Die eineinhalbstündige Episode sagt jede zweite Minute: Seht mal, wie clever ich bin. Das ist regelmässig lustig, aber das Lachen muss beim Anschauen mit harter Arbeit errungen werden.
Wie hältst du es mit dem Bösen?
Für jede Kriminalgeschichte ist das Böse eine Herausforderung. Es ist Ausgangspunkt und Ziel, sei es metaphysisch, individualpsychologisch oder gesellschaftlich verstanden. Der ursprüngliche Sherlock Holmes traf immer wieder auf seine Nemesis Moriarty. Den baute Doyle ein bisschen augenzwinkernd zum Überbösewicht auf, mit gelegentlich beunruhigtem Blick über die Schulter auf die kommenden proletarischen und antikolonialen Revolten. Für den modernen «Sherlock» ist Moriarty eine neue Verlegenheit. Einerseits sind – Stichwort Überwachungstechnologien – die Möglichkeiten globaler Herrschaft gewachsen. Andererseits kommen solche Bösewichte nicht mehr ohne aparte psychopathologische Verhaltensmuster aus.
Der jüngste Fall dreht sich lose um eine von den Toten auferstandene Mörderin im Brautkleid. Doch es gibt keine Geister – an diesem aufklärerischen Schlachtruf halten Sherlock und «Sherlock» lobenswert fest und zeigen schön didaktisch, wie all die Spezialeffekte durch die mörderische Braut inszeniert worden sind.
Was allerdings nicht das letzte Wort oder Bild ist.
Arthur Conan Doyle bettete seinen Sherlock jenseits konventioneller Kriminalfälle zuweilen in eine politische Konstellation ein, in der Mycroft Holmes, der (noch) schlauere Bruder von Sherlock, als Sonderberater der britischen Regierung alle Fäden zieht. Auch im modernen «Sherlock» erteilt Mycroft seinem Bruder zuweilen einen Auftrag im Namen Britanniens. Das ist ironisch gebrochen gemeint – so identifiziert Holmes eine von Mycroft angedeutete globale Verschwörung als Suffragettenbewegung, die er gegen die Männergewalt für gerechtfertigt hält. Aber dann steckt doch wieder Moriarty in der verhüllten Rächerinnenfigur. Oder also Holmes selbst. Oder sein Fieberrausch.
Das Konstruktionsprinzip des Films fasziniert: Alles muss stets in Bewegung bleiben. Nichts ist verlässlich. Die Welt ist ein Spiegelkabinett und besteht nur aus Falltüren. Nichts existiert ohne Verweis auf ein anderes. Was auch heisst: Nur SerienkennerInnen sind richtige ZuschauerInnen.