Polen: Ein Land im Zwischenraum

Nr. 2 –

Der Schlüssel zum Verständnis des autoritär anmutenden Rechtsrucks in Polen liegt in der Geschichte des Landes. Und in der Person von Jaroslaw Kaczynski.

Von «Staatsstreich-Charakter» in Polen spricht der Parlamentspräsident der Europäischen Union Martin Schulz, von «drohender Diktatur» die polnische Opposition, und Polens ehemaliger Präsident Lech Walesa warnt gar vor einem Bürgerkrieg. Auch wenn diese Einschätzungen übertrieben sind, rufen die Vorstösse der in Warschau seit November 2015 allein regierenden, nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu Recht KritikerInnen auf den Plan. Die Unterstellung der öffentlich-rechtlichen Medien unter die Kuratel der Regierung ist demokratiefeindlich. Die Entmachtung des Verfassungsgerichts und die angekündigte Reform des Justizwesens laufen auf die schleichende Unterordnung der Gerichtsbarkeit unter die Exekutive hinaus. Die Gewaltenteilung wird so ausgehebelt.

Diese Politik trägt die Handschrift eines Mannes: Jaroslaw Kaczynski. Der 67-jährige PiS-Chef ist dabei weder Regierungsmitglied noch Fraktionsführer. Dennoch geht ohne ihn in Partei und Regierung nichts. Regierungschefin Beata Szydlo ist bislang eine machtlose Marionette. Staatspräsident Andrzej Duda, der eigentlich parteiunabhängig sein sollte, erfüllt pflichtschuldig alle Wünsche seines Mentors Kaczynski.

Vorbild Ungarn

Kaczynski hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass die politischen Verhältnisse in Ungarn sein Vorbild sind. Daher sind das rabiate Durchregieren und die Kontrollübernahme aller Schlüsselstellen des Staates nur auf den ersten Blick überraschend. Ihn treibt nicht nur der rationale Wille zur Macht und zur Umgestaltung Polens in eine national-katholisch geprägte Vierte Republik an. Kaczynski wird auch von einem tiefen Hass gegen die «postkommunistischen Eliten» der bestehenden Dritten Republik geprägt. Nach dem Wahlsieg der PiS von 2005 zog er erstmals gegen diese zu Feld (ab Sommer 2006 im Amt des Ministerpräsidenten), scheiterte aber und verlor bei den Neuwahlen von 2007 die Mehrheit. Kaczynski weiss, dass er nach der nun erlangten zweiten Chance keine dritte mehr bekommt.

Doch obgleich etliche Parallelen zwischen Viktor Orbans und Kaczynskis Staatsvisionen bestehen, ist Polen dennoch nicht gleich Ungarn. Anders als in Ungarn ist die Opposition in Polen keineswegs gelähmt und delegitimiert. Die ersten Strassenproteste sind zwar noch überschaubar, doch die Stimmung könnte schnell kippen. Die PiS verfügt, anders als die ungarische Regierungspartei Fidesz von 2010 bis 2015, über keine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Sie kann die Verfassung nicht ändern. Auch übernahm die Kaczynski-Partei von der Vorgängerregierung zwar grosse soziale Probleme, aber keinen Staat am Rand der Pleite, wie es der Fidesz in Ungarn 2010 tat. Ihre versprochenen grosszügigen Sozialreformen müssen daher Wirkung zeigen, ansonsten wird sich ein Teil ihrer WählerInnen enttäuscht von der Partei abwenden.

Die harte PiS-Klientel indes, rund 25 Prozent der WählerInnen, wird Übervater Kaczynski die Treue halten, komme, was wolle. Denn die PiS steht wie keine andere Partei für den traditionell wirkmächtigen katholischen Glauben im Land ein und für ein spezifisches Nationalbewusstsein, das sich in Polen übermässig stark aus einstiger Demütigung, Nichtsouveränität und Niederlagen speist.

Polen verharrt trotz aller Westanbindung der letzten 25 Jahre in einem Zwischenraum, in dem sich auch andere Staaten Mittel- und Osteuropas befinden. Das Land gehört kulturell, gesellschaftlich, geografisch und mental weder richtig zum Westen noch zum Osten. Es ist ökonomisch zwar kein wirklich peripherer Staat, aber eben auch nicht Teil des Zentrums.

Die Liste der Gründe für dieses Dazwischen ist in Polen lang: die Zersetzung des einst mächtigen Königreichs durch den heimischen Adel und später durch die Grossmächte Russland, Preussen und Österreich-Ungarn; die 123 Jahre dauernde staatliche Nichtexistenz bis zum Ende des Ersten Weltkriegs; die Zerstörung durch die Deutschen im Zweiten Weltkrieg, die De-facto-Unterwerfung durch die Sowjetunion nach 1945 inklusive der Verschiebung des ganzen Landes nach Westen. Auch gab es in Polen, anders als in den Staaten des Westens, im Zuge politischer Protestbewegungen von 1968 keinen Liberalisierungsschub – den Warschauer März jenes Jahres erstickten die KommunistInnen im Keim. Und selbst die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils gingen an der Weichsel bis heute fast spurlos vorbei.

«Radfahrer und Vegetarier»

All dies vermengt sich bei einem grossen Teil der PiS-AnhängerInnen und dem PiS-Führungspersonal zu einer tiefen Skepsis gegenüber der Europäischen Union. Daher rühren auch scheinbar so bizarre Aussagen wie jüngst die von Aussenminister Witold Waszczykowski. Dieser warnte in einem Interview mit der deutschen «Bild» vor einem «Mix von Kulturen und Rassen, einer Welt aus Radfahrern und Vegetariern». Das habe mit den traditionellen Werten Polens nichts zu tun. Ein nicht unerheblicher Teil der PolInnen stimmt solchen Aussagen ebenso zu wie jenen, dass im Land nach wie vor staatszersetzende, postkommunistische Seilschaften am Werk seien.

Dabei hat die PiS-Kritik an den Vorgängerregierungen durchaus ihre Berechtigung: So sind die Verbrechen der Diktatur vor 1989 tatsächlich unzulänglich geahndet worden. Mehr noch: Der alten Nomenklatura gelang es bei der Machtabgabe, einen Kompromiss mit ihren OpponentInnen zu schliessen. Einige konnten sich dabei im Zuge der Privatisierungen bereichern, während nach 1990 Millionen von PolInnen durch den Systemwechsel und den dadurch ausgelösten neoliberalen Schock an den Rand des Ruins getrieben wurden.

Kaczynskis Irrationalität

Aber der Transformationsprozess lässt sich nicht nur mit einer einfachen Freund-Feind-Rhetorik erklären. Die Geschichte muss differenziert betrachtet werden. Doch das ist nicht die Sache der PiS. Diejenigen, die gegen die Regierung protestierten, sagte Kaczynski jüngst, «sind Polen der schlechteren Sorte». Mit dieser Einstellung wird die Partei tatsächlich bestehende Missstände nicht beheben, sondern schlimmere hervorrufen.

Doch Kaczynski treibt eine Irrationalität, die sich auch aus einem persönlich erlebten Unglück speist: dem tragischen Tod seines Zwillingsbruders. Lech Kaczynski kam 2010 im Amt des Staatspräsidenten bei einem Flugzeugabsturz im russischen Smolensk ums Leben. Jaroslaw Kaczynski, sagt die im Land quer durch die Lager geachtete Soziologin und einstige PiS-Anhängerin Jadwiga Staniszkis, habe «2010 eine schwere Lektion erhalten, weil man seine Verzweiflung nicht achtete». Was ihn seitdem antreibe, sei «keine Revanche. Es ist etwas Tieferes. Es ist der Wille, alle zu demütigen.»

Der Flugzeugabsturz von Smolensk soll nun neu untersucht werden. Die These, es handle sich dabei um eine russische Verschwörung, hält sich bei vielen PiS-AnhängerInnen hartnäckig. Ob auch Kaczynski an einen Anschlag glaubt oder ob er den Brudertod nur politisch nutzt, bleibt sein Geheimnis. Für Polen wäre es besser, Kaczynski würde nur eiskalt kalkulieren. Denn das hiesse, dass er insgesamt rational denkt. Und umlenkt, wenn es die Umstände erfordern.