Foucaults Fragen: Was hat das, was jetzt passiert, mit mir zu tun?

Nr. 7 –

Die Welt scheint aus den Fugen. Michel Foucault hilft auch heute noch, die Zuversicht nicht zu verlieren. Etwa bei der Suche nach einer Alternative zum neoliberalen Selbst.

Kein in sich abgeschlossenes Werk wollte der französische Denker Michel Foucault schaffen, sondern eine Werkzeugkiste zur Verfügung stellen, Instrumente, mit denen sich die Welt verändern lässt. Viele haben sich seither aus dieser Kiste bedient und an Foucaults Forschungen angeknüpft – bis heute.

Am 1. Februar ist die Plattform «Geschichte der Gegenwart» online gegangen. In Zürich tätige Intellektuelle um den Historiker Philipp Sarasin wollen die Möglichkeit bieten, sich «angriffslustig, machtkritisch und intellektuell neugierig» zum Zeitgeschehen zu äussern. Nötig sei dabei «Wissen, Mut zur Stellungnahme und Weitsicht». Dass die HerausgeberInnen ihre Plattform nach einem von Foucault in «Überwachen und Strafen» verwendeten Begriff nennen und sich in ihrer Absichtserklärung an seinen Ideen orientieren, ist kein Zufall.

Mit untrüglichem Gespür

Warum ist Michel Foucault (1926–1984) heute wichtig? Die erwähnten Stichwörter geben Hinweise. Wissen / machtkritisch: Foucault verbindet seine historische Forschung auf faszinierende Weise mit theoretischen Überlegungen und mit der Gegenwart. Insbesondere zeigt er in seinen Analysen, wie innig Wissen und Macht miteinander verschränkt sind; Google ist heute bloss ein besonders krasses Beispiel. – Mut zur Stellungnahme / angriffslustig: Er wagte es, auf düstere Aspekte unserer scheinbar so zivilisierten Gesellschaft hinzuweisen. Etwa dass sich aufklärerische Rationalität durchaus gerne mit Gewalt verbündet. – Weitsicht / intellektuell neugierig: Nicht nur mit seinen Vorlesungen zum (Neo-)Liberalismus («Geschichte der Gouvernementalität», 1978/79) bewies er ein untrügliches Gespür dafür, was die künftige Gegenwart entscheidend prägen wird. Auch bei Themen wie Sexualität, Psychiatrie oder Überwachung lieferte er Diagnosen, die seiner Zeit voraus waren.

Beschäftigte sich Foucault in den siebziger Jahren intensiv und explizit mit Machtverhältnissen, wandte er sich später scheinbar weniger wichtigen Dingen zu. «Die Sorge um sich» (1984) heisst sein letztes Buch – das tönt eher nach Ratgeberliteratur als nach philosophischem Tiefgang. Doch Foucault geht es weder um das ahistorische, universale Ich von René Descartes und Paulo Coelho noch um eine Optimierung der individuellen Arbeitsleistung. Stattdessen nimmt er eine Frage von Immanuel Kant auf: Was geschieht heute mit uns? Und was, fragt Foucault weiter, hat das mit mir zu tun?

Der (Neo-)Liberalismus fordert die totale Unterordnung unter den Markt, verspricht aber auch die Befreiung des Individuums. Damit wir darauf angemessen reagieren können, müssen wir erforschen, wie wir zu Subjekten und Gesellschaften geworden sind, die die gegenwärtigen Verhältnisse tragen und befördern. Foucault wird mitunter vorgeworfen, er könne Menschen nur als «gestanzte Einzelfälle» (Jürgen Habermas) wahrnehmen, die ihr Leben in keinster Weise frei führen könnten. Tatsächlich untersuchte er zunächst, wie Machttechnologien auf Individuen wirken. Doch erst wer erkennt, wie er beeinflusst und geformt wird, ist fähig, seine Existenz selbst zu gestalten.

«Unbeugsam die Wahrheit sagen»

Genau darum geht es Foucault schliesslich. Als exemplarische Figur findet er in der Antike den Parrhesiasten, den «Allessager», ein Individuum, das die eigene Wahrheit sucht, sie dann ausspricht (auch andern gegenüber, was gefährlich sein kann) und so die eigene Freiheit und Wahrheit, kurz: sich selbst als Subjekt produziert. Unter keinen Umständen will es unehrlich zu sich selbst sein. Mit diesem extremen Bezug auf die Wahrheit unterscheiden sich ParrhesiastInnen vom passiven christlichen Selbst, das seine Sünden einer übergeordneten Macht gesteht, und vom neoliberalen Selbst, das sich statt an der Wahrheit immer am Markt orientiert, um dort seine Chancen zu wahren. Während die Parrhesiastin sich auch um andere und um die Welt kümmert, kennen «gute» Marktteilnehmer am Ende nur die Konkurrenz, «the survival of the fittest».

Ein unabsehbar langer, beschwerlicher Weg, gewiss. Aber erst als es Kassandra in Christa Wolfs gleichnamiger Erzählung gelingt, «unbeugsam die Wahrheit zu sagen», erlebt sie «das Glück, ich selbst zu werden und dadurch den andern nützlicher». Michel Foucault hätte andere Worte verwendet. Aber dass wir anders denken und handeln könn(t)en, haben wir auch ihm zu verdanken.