Gewerkschaft Syndicom: «Der Fisch stinkt vom Kopf her»

Nr. 7 –

Erlebt Syndicom das nächste Jahrzehnt nicht mehr? Das behaupten KritikerInnen aus den eigenen Reihen. Die Gewerkschaftsleitung ist dagegen optimistisch. Fakt ist: Syndicom leidet an Schwindsucht. Weshalb, darüber gehen die Meinungen weit auseinander.

2011 fusionierten die Gewerkschaften Kommunikation und Comedia zur 47 000 Mitglieder starken, drittgrössten Gewerkschaft der Schweiz. So unterschiedliche Branchen und Gewerkschaftskulturen wie die der Drucker, Journalistinnen, IT- und Telekommunikationsleute und PöstlerInnen fanden sich unter einem Dach wieder. Die Fusion sollte den Mitgliederschwund bremsen, mittelfristig die Zahl der Mitglieder wieder wachsen lassen, die politische Schlagkraft erhöhen und die Verhandlungsmacht gegenüber den Unternehmen stärken.

Fünf Jahre nach der Fusion ist keines dieser ehrgeizigen Ziele erreicht. Syndicom macht aus unterschiedlichen Gründen gerade keine «bella figura»: Die Gewerkschaft hat über 10 000 Mitglieder verloren, die Personalfluktuation von aktuell etwa fünfzehn Prozent ist katastrophal, und eine MitarbeiterInnenbefragung ergab ein vernichtendes Resultat. Mobbingvorwürfe, fehlende gewerkschaftliche Antworten auf den rasanten technologischen Wandel und Arbeitsplatzverlust in manchen von Syndicom vertretenen Branchen, Strategiestreit und teilweise schwache Abschlüsse bei Gesamtarbeitsverträgen (GAV) setzen der Gewerkschaft zu. Die Stimmung ist nervös. Denn weniger Mitglieder bedeuten weniger Mittel. Weniger Mittel heisst: Schwächung der Schlagkraft.

Unzufriedene Mitglieder üben öffentlich Kritik. Sie würden von der Gewerkschaftsleitung nicht ernst genommen, die Geschäftsleitung manipuliere basisdemokratische Prozesse, und die Mitgliederzeitung übe Zensur. Manche monieren mit zum Teil falschen Zahlen die hohen Löhne der Geschäftsleitung. Im Hickhack dieser internen Auseinandersetzungen geht unter, dass Syndicom in einem schwierigen Umfeld agieren muss. Die von ihr vertretenen Branchen unterliegen einem rasanten technologischen Wandel, die Digitalisierung der Arbeitswelt produziert prekäre Arbeitsverhältnisse und Ich-AGs.

Besonders die Druckereibranche steht seit Jahrzehnten unter Druck. In den vergangenen dreissig Jahren gingen in der einst stolzen Branche die Hälfte der Arbeitsplätze verloren – und damit auch Gewerkschaftsmitglieder. Die einst sicheren Arbeitsplätze beim Staatsbetrieb Post sind durch Deregulierung und Teilprivatisierung ebenfalls unter Druck geraten. Das gilt erst recht für die Medienbranche. Während das andere grosse Fusionsgebilde, die Unia, gegenüber Unternehmen selbstbewusst und aggressiv auftritt und neue Felder erschliesst, tut sich Syndicom damit schwer.

Harsche Vorwürfe

Die Gewerkschaft ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Mit dem vorzeitigen Rücktritt ihres Präsidenten und Geschäftsleitungsmitglieds Alain Carrupt auf Anfang März verliert Syndicom buchstäblich den Kopf. Und mit der Juristin Bernadette Häfliger verabschiedete sich im Herbst die einzige Frau aus der Geschäftsleitung. Den Vorwurf, sie sei wegen unterschiedlicher Auffassung über die künftige Strategie aus dem Gremium älterer Männer rausgemobbt worden, untersucht eine Kommission. Erste Resultate werden womöglich bereits am Samstag dieser Woche dem Zentralvorstand von Syndicom vorgestellt.

Ein Gewerkschafter sagt zur WOZ: «Der Fisch stinkt vom Kopf her. Je höher man raufgeht, desto schlechter ist die Stimmung.» Ein anderer Gewerkschafter orakelte anonym in der «Berner Zeitung», Syndicom sei am Boden und werde das nächste Jahrzehnt nicht mehr erleben. Nicht nur hohe FunktionärInnen werfen das Handtuch.

Ist der Zustand der Gewerkschaft tatsächlich so dramatisch, wie ihn manche darstellen? Das kommt darauf an, mit wem man redet. Leitende Funktionäre wie das Geschäftsleitungsmitglied Roland Kreuzer sehen es natürlich anders.

Mitgliederschwund: Der sei nicht zu leugnen. Bei der Fusion fand eine Bereinigung der Mitgliederdatenbank statt; Mitglieder mit grossen Beitragsrückständen seien gestrichen worden. Stellenabbau in den vertretenen Branchen sei jedoch der Hauptgrund für den Mitgliederrückgang, insbesondere im Bereich Druck und Medien, sagt Kreuzer.

Demokratiedefizit: Den Vorwurf, die Geschäftsleitung nehme die Anliegen der Basis nicht ernst, lässt Kreuzer nicht gelten. Es gebe Konflikte wie in jeder Organisation, aber diese könne man bei Syndicom offen austragen. «Mitglieder können ihre Kritik in unseren Gremien einbringen», sagt er.

Personelle Abgänge: Diese hätten unterschiedliche Gründe. Präsident Alain Carrupt hatte seinen Rücktritt auf das Ende dieser Amtszeit bereits angekündigt. Er ist aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig zurückgetreten. Auch der Abgang von Bernadette Häfliger lasse sich nicht allein auf interne Auseinandersetzungen reduzieren.

Ein Gewerkschafter, der die Hintergründe kennt, sagt allerdings: «Es ist völlig klar, weshalb Bernadette gegangen ist.» Weil die übrigen GL-Mitglieder ihr Projekt «Zukunftswerkstatt» schubladisiert und einen eigenen Bericht geschrieben hätten. Häfligers Bericht werde bis heute zurückgehalten. «Die alten Männer können sich von ihrer Vergangenheit nicht lösen und setzen wieder auf branchenspezifische statt auf übergreifende Gewerkschaftsarbeit. Hier ist die Vergangenheit der Gewerkschaft am Werk, nicht die Zukunft.»

Dem widerspricht die Geschäftsleitung. Es gebe keine Berichte unter Verschluss. Häfligers Bericht sei im Zentralvorstand als mögliche Diskussionsgrundlage erörtert, aber nicht weiterverfolgt und nicht an alle Mitglieder verschickt worden. Nach intensiver Diskussion hätten Zentralvorstand und Delegiertenversammlung mit grosser Mehrheit entschieden, dass der Fokus der Arbeit auf GAV-Politik, Mitgliederwerbung und die Stärkung der Betriebskommissionen und des Kontaktnetzes gerichtet wird.

Hohe Defizite

Dass die von Syndicom vertretenen Branchen unter Druck stehen, Arbeitsplätze verloren gehen und neu entstandene Berufsfelder gewerkschaftlich nicht oder noch nicht ausreichend organisiert sind, darauf habe Syndicom reagiert, aber noch keine abschliessenden Antworten, sagt Kreuzer. «Es ist richtig, uns ist es nicht gelungen, die Mitgliederverluste zu kompensieren.» Syndicom strafft nun ihre Organisation und muss sparen. Das strukturelle Defizit (laut Gewerkschaftsangaben 600 000 Franken im Jahr 2014, 800 000 Franken im Jahr 2015) solle bis 2018 behoben sein. «Wir bauen im Backofficebereich zugunsten der Arbeit an der Front um. Wir müssen Kosten reduzieren und mit den frei werdenden Mitteln gewerkschaftliche Aufbauarbeit finanzieren», sagt Kreuzer.

Die Gewerkschaftsleitung begegnet dem Mitgliederschwund mit einer Werbeoffensive. Basismitglieder, die Leute anwerben, bekommen eine Prämie. FunktionärInnen haben Vorgaben, wie viele Mitglieder sie werben müssen. Kreuzer sagt: «Ich stelle eine Aufbruchstimmung fest: Wir schaffen das!» Er verweist ausserdem auf Erfolge bei neuen Gesamtarbeitsverträgen. Neuerdings sind ein Teil der Callcenterangestellten einem GAV unterstellt. Ein anderes wichtiges Thema: die gewerkschaftliche Organisation von FreelancerInnen, deren Zahl in vielen Organisationsbereichen steigt.

Hört man sich allerdings weiter unten um, wirkt die Darstellung der leitenden Funktionäre schönfärberisch. Samuel Rüegger, Vizepräsident von Syndicom Basel, wirft der Geschäftsleitung unter anderem Manipulationsversuche von Delegierten und die Missachtung demokratisch gefällter Entscheide vor. «Mir ist bekannt, dass Geschäftsleitungsmitglieder Delegierte vor einer Versammlung telefonisch bearbeitet haben, um Entscheide in ihrem Sinn zu beeinflussen. Schöne Demokratie», meint er sarkastisch.

Rüegger erwähnt ein anderes Beispiel. Bei der Anstellung von GewerkschaftssekretärInnen ist die Basis im Bewerbungsgremium vertreten. In einem Fall habe sich das Bewerbungsgremium gegen die von der Geschäftsleitung favorisierten Kandidaten ausgesprochen – und sich in einer Abstimmung durchgesetzt. «Die Geschäftsleitung hat dann einfach die von ihnen bevorzugten Leute eingestellt. So kann man es natürlich auch lösen. Aber dann soll man es auch so deklarieren und die Basismitglieder nicht durch pseudodemokratische Übungen veräppeln.»

Samuel Rüegger ist ausserdem mit der strategischen Ausrichtung der Geschäftsleitung nicht einverstanden. Stellen in den Regionen abbauen und die Gewerkschaftsarbeit zentralisieren sei der falsche Weg. «Mitglieder wirbt man nicht durch Vorgaben, Mitglieder wirbt man durch gewerkschaftliche Basisarbeit. Das stärkt das Ansehen der Gewerkschaften bei den Leuten in den Betrieben.» In der Region Basel, der zweitstärksten Wirtschaftsregion der Schweiz, habe Syndicom Abgänge nicht mehr ersetzt und Stellen abgebaut. «Das ist doch ein Witz», sagt Rüegger. «Wir müssen die Mittel in die Regionen investieren, nicht in die Zentrale.»