Porträt von Anja Conzett: «Wichtig ist, dass man wütend ist»

Nr. 8 –

Die Journalistin Anja Conzett hat für ein halbes Jahr den Schreibtisch mit einem Bauhelm getauscht. Herausgekommen ist ein Buch, das die wirtschaftliche Grauzone des Lohndumpings mit klarem Blick ausleuchtet.

Anja Conzett: «Bei den Gesprächen zu meinem Buch wirkte ich wohl harmloser, als ich es eigentlich bin.»

Manchmal hat es Vorteile, eine Frau zu sein. Und jung noch dazu. «Auf Recherche kann dir doch nichts Besseres passieren, als unterschätzt zu werden», sagt Anja Conzett. Die 27-Jährige hat gerade ein Buch veröffentlicht: Es geht um Lohndumping – «eine Spurensuche» auf Schweizer Baustellen, wie es im Untertitel heisst.

Viel wird diskutiert über Dumpinglöhne, Personenfreizügigkeit und flankierende Massnahmen. Und doch haben die wenigsten einen Einblick in die Arbeitsrealität von Maurern, Gipserinnen oder Bodenlegern. «Das geht an den meisten von uns vorbei», sagt Conzett. Ihre Recherche beleuchtet eine Welt, die ihr selbst allerdings nicht fremd ist. Der familiäre Hintergrund – Conzett entstammt einer Bündner «Büezerfamilie» – sorgte für wenig Berührungsängste. Und er hat ihr journalistisches Schaffen geprägt. «Ich unterhalte mich eindeutig lieber mit Bauarbeitern als mit Politikern oder Angehörigen der Wirtschaftselite», sagt sie. Conzett will von unten berichten, auch wenn das abgedroschen klingen mag. Statt für ein Polit- oder Geschichtsstudium entschied sie sich nach der Matura für ein Praktikum im Schlachthof: «Ich will politischen Journalismus machen, aber nicht aus der Bundeshausperspektive.»

Die sichere Stelle gekündigt

Um ihr Buchprojekt zu realisieren, kündigte Conzett vor einem halben Jahr ihre Redaktionsstelle bei der «Südostschweiz». Die Chance war einmalig: Die Gewerkschaft Unia war auf die ursprünglich nur als Abschlussarbeit für die SAL-JournalistInnenschule geplante Recherche aufmerksam geworden. Dank einer Abnahmegarantie und eines Zuschusses der Unia willigte der Rotpunktverlag in eine Publikation ein.

Sechs Monate Vollgas also. Und am Anfang die bange Frage, ob unabhängiger Journalismus in einer solchen Konstellation überhaupt möglich ist: Der Kanton Zürich stimmt dieses Wochenende über die Lohndumping-Initiative der Unia ab, die den Tieflohnwettbewerb in der Baubranche beenden will. Das Buch kommt rechtzeitig zur Abstimmungsschlusskampagne auf den Markt. «Ich habe der Unia von Anfang an klargemacht, dass ich nicht als ihr verlängerter Arm arbeite», sagt Conzett. Druck, in eine bestimmte Richtung schreiben zu müssen, habe sie nie gespürt. Das Vertrauen fasst die junge Journalistin als Zeichen dafür auf, dass die Unia sich nicht vor unabhängiger Berichterstattung fürchtete: «Die Realitäten auf dem Bau sprechen für sich.»

«Feierabend» heisst das erste Kapitel von Conzetts Buch. Drei Bauleute sitzen zusammen und bringen ohne Umschweife die Dilemmata der Branche auf den Punkt. «Ich trau den Gewerkschaften einfach nicht mehr», sagt einer. «Da oben bei denen sitzen doch auch alles nur Studierte. Die sind nicht wie wir. Es geht doch immer um Macht.» Conzett kann das Misstrauen nachvollziehen. Nicht weil sie die Anliegen der Gewerkschaft nicht teilt, sondern weil in vielen Gesprächen mit Bauarbeitern ein Loyalitätskonflikt offenbar wurde: auf der einen Seite der steigende Arbeitsdruck, die sinkenden Löhne, eine berechtigte Wut – auf der anderen Seite ein gewisses Verständnis für den Chef, der einen vielleicht schon seit der Lehre beschäftigt. Dieser Komplexität müsse man sich gewahr sein, sagt Conzett. Von der Gewerkschaft wünscht sie sich die Bereitschaft, bei verhandlungsbereiten Partnern auch einmal auf eine medienwirksame Baustellenschliessung zu verzichten. Manchmal seien die Schliessungen aber auch der einzige Weg, um die Partner überhaupt an den Tisch zu kriegen.

Eine Stunde spazieren

In ihrem Buch lässt Conzett alle Akteure des Bauwesens zu Wort kommen: Sie setzt Nico Lutz, Sektorleiter Bau der Unia, mit Daniel Lehmann, Geschäftsführer des Baumeisterverbands, an einen Tisch, trifft polnische Bauarbeiter in ihren Unterkünften, konfrontiert die Generalunternehmen mit ihrer Verantwortung. Die Grössten der Branchengrossen, Behörden, aber auch die Unia-Funktionäre seien manchmal überrascht gewesen über die Hartnäckigkeit, mit der sie um jedes Zitat gekämpft habe.

«Ich wirkte wohl bei den Gesprächen harmloser, als ich es eigentlich bin. Vielleicht unterschätzte man auch, wie wütend mich die momentane Situation macht, in der Verantwortung permanent abgeschoben wird – an Subunternehmer, Kantone, paritätische Kommissionen. Menschen sind keine Ressource und auch keine Figuren auf dem Spielbrett der Machtpolitik.» Sie finde es überhaupt «wichtig, dass man wütend ist». Doch man müsse unterscheiden: «Bei der Recherche ist Wut dein bester Freund, beim Schreiben dann dein schlimmster Feind.»

Bevor sie sich nach einem aufreibenden Gespräch an den Schreibtisch setzte, ging Anja Conzett nicht selten eine Stunde spazieren. Sie habe unaufgeregte, klare Texte schreiben wollen, sagt sie. Es ist ihr gelungen.

Anja Conzett: «Lohndumping. Eine Spurensuche auf dem Bau». Rotpunktverlag. Zürich 2016. 176 Seiten. 29 Franken.