Russland: «Eine Atomwolke wie im Film»

Nr. 9 –

Als die Sowjetunion in den fünfziger Jahren auf dem Archipel Nowaja Semlja Atomwaffen testete, diente Iwan Chlopow dort als Offizier. Auf eine Entschädigung für die gesundheitlichen Folgen wartet er bis heute.

Iwan Chlopow kann belegen, dass er während der Atombombenversuche auf Nowaja Semlja stationiert war, doch das interessiert die russischen Behörden nicht.

Die kleine Zweizimmerwohnung am Rand der russischen Stadt Kasan sieht aus wie bei vielen RentnerInnen des Landes: alte Möbel, ein grosser Stapel Fotoalben. In die winzige Küche passen gerade noch ein kleiner Tisch und zwei Hocker. Auf dem Gasherd steht ein grosser Topf. Iwan Chlopow kocht für sich Suppe mit Kohl, Kartoffeln und Hühnerschenkeln. Wenn der Topf leer ist, bereitet er neue zu.

Der klein gewachsene Mann mit den schneeweissen Haaren und dem glatt rasierten Gesicht hatte 1955 angefangen, als Matrose in der Versorgungseinheit der Kriegsmarine in Sowetskaja Gawan ganz im Osten der damaligen Sowjetunion zu dienen. 1958 bekam seine Mannschaft den Befehl, ein Schiff aus der DDR nach Sowetskaja Gawan zu bringen. Doch dazu sollte es nicht kommen. «Als wir das Baltische Meer erreichten, war das Schiff schon von einer anderen Mannschaft eingeführt worden», erzählt Chlopow, der damals Unteroffizier war. «Stattdessen sollten wir zwei neue Tanker nach Sowetskaja Gawan befördern.»

Der Kessel auf dem Herd beginnt zu pfeifen. Erst wenn der Ton fast so laut wie eine Sirene ist, darf das Gas ausgemacht werden. Der 77-Jährige berichtet detailliert über die Routen, die er befuhr, über Reparaturen und diverse Hafenstädte, die er besichtigen konnte. Seine Sprache ist geprägt von Marinejargon und technischen Begriffen, die er ohne Nachfrage erklärt. «Einmal erhielten wir den Befehl, einen Tanker zu warten, vollzutanken und zur Nordinsel von Nowaja Semlja zu fahren», berichtet Chlopow. Der Kapitän habe ihm von Übungen auf der Insel erzählt. Auch die Zeitungen schrieben von «Übungen der Nordflotte mit Einsatz moderner Waffen». Keiner wusste mehr darüber.

«Befehl ist Befehl»

Derweil bekam die Mannschaft bulgarisches Obst, gezuckerte Kondensmilch, guten Käse und Wurst. Auch ein dreimonatiger Kuraufenthalt in Sotschi wurde der Besatzung versprochen. «Ich dachte: ‹Wenn wir so gutes Essen und Urlaub bekommen, wird es etwas Gesundheitsschädliches sein›», sagt der Rentner. «Aber Befehl ist Befehl!»

Der Tanker fuhr in Richtung Nowaja Semlja. An Bord: Trinkwasser und optische Messgeräte, die die Stärke von Explosionen anzeigen. Chlopow will Bilder des Tankers zeigen, verschiebt das aber auf später. «Als wir Nowaja Semlja erreichten und die Ladung gelöscht wurde, gingen einige an Land – und wurden festgehalten. Wir durften den Tanker ohne Genehmigung nicht verlassen», erzählt er. Die Familien der auf der Insel stationierten Offiziere waren längst weg. Auch die Nenzen, die indigene Bevölkerung der Insel, waren bereits umgesiedelt worden. «Wir fuhren zurück aufs Festland und warteten auf den nächsten Befehl, ohne zu wissen, was auf der Insel vor sich ging.»

Einige Tage später brachte die Mannschaft erneut Geräte und Trinkwasser auf die Insel. Weil der Funker den Befehl zum Verlassen der Insel verpasste, fuhr der Tanker verspätet los. Plötzlich wurde Chlopow nach oben gerufen, ein Offizier erzählte ihm, er habe eine riesige Explosionswolke gesehen. «Ich riet ihm, dies dem Kapitän zu melden», sagt Chlopow. «Trotz Gasmaske fiel es mir schwer zu atmen, so stark war der Brandgeruch!» Als der Kapitän den Atompilz sah, befahl er, den Kurs zu ändern. «Die Wolke war so gross, wie man es in den Filmen zeigt», so der ehemalige Offizier. Weil draussen ein Sturm tobte, habe er die Explosion selbst jedoch nicht gehört.

Havarie auf dem Rückweg

Auch ein drittes Mal war Chlopow auf der Insel. Als sich die Mannschaft bereits auf dem Rückweg befand, brach ein starker Sturm los. «Der Tanker schaukelte hin und her, die Schiffsschrauben schlugen auf die Wellen.» Chlopow imitiert das Geräusch der Schrauben. «Das Heck türmte sich auf. Der Kapitän befahl ‹Volle Kraft voraus!›, aber der Tanker bewegte sich kaum.» Chlopow war klar, dass die Schrauben das nicht verkraften würden, es zur Havarie führen würde. Er schaltete auf «langsam zurück». «Da streifte die Wolke einer Atombombenexplosion den Tanker. Damals realisierte ich nicht, dass die Trichter, die die Luft für den Atmosphärendruck der Triebwerke einsaugten, auch die radioaktive Luft und den Staub einsaugten.» Der Rentner legt beim Erzählen keine Pause ein, nur ab und an holt er kurz Luft. Sein Tee ist schon lange kalt geworden, aber er hat noch keinen einzigen Schluck davon genommen.

Als er Strahlung abbekam, war Chlopow 22. Kurz darauf fingen seine Haare an, grau zu werden, nach und nach wurden sie schneeweiss. Auch sein Gesundheitszustand begann zu schwanken. Den versprochenen Urlaub in Sotschi bekam niemand aus der Mannschaft. Stattdessen musste Chlopow zwei Schweigepflichtserklärungen unterschreiben.

Bis 1990 wurden auf Nowaja Semlja 135 Atomwaffen getestet – darunter auch im Oktober 1961 die «Zar-Bombe», die stärkste jemals gezündete Wasserstoffbombe. 1963 verliess Chlopow die Flotte, legte sich einen Taschengeigerzähler zu und prüfte gelegentlich die Strahlenbelastung seines Körpers, die sich mit der Zeit verringerte. Später schenkte er das Gerät einem Freund, der nach der Katastrophe von Tschernobyl nach Belarus fuhr. 2001 beantragte er bei den Behörden eine Entschädigung. «Hat nicht teilgenommen», stand auf einem Bescheid, den er bekam. «Ich kann aber belegen, dass ich auf Nowaja Semlja stationiert war!» Chlopow geht ins Wohnzimmer. Dort zeigt er doch noch seine Fotoalben, in denen jedes Foto eine lange Geschichte hat.