Auf allen Kanälen: Wie ich zum Experten wurde

Nr. 11 –

Wenn das Mediengeschäft immer schneller dreht, wächst die Nachfrage nach ExpertInnen. Und wenn es kaum welche gibt, werden sie halt gemacht.

Andreas Fagetti

In Gedanken werkelte ich gerade an einem Artikel, als das Handy vibrierte. Erscheint auf dem Display eine unbekannte Nummer, stellt sich gleich dieses schlechte Gefühl ein. Polizei? Steueramt? Eine wütende Leserin? Jemand, den ich im Suff beleidigt habe? Eine junge Frauenstimme meldete sich: «Guten Tag, hier Radio FM 1. Sie sind doch Mafiaexperte. Ich habe einige Fragen zu den gestrigen Verhaftungen der mutmasslichen ᾽Ndrangheta-Mitglieder.»

Mafiaexperte?! Ich stockte. Dann fiel der Groschen. Vor zwei Jahren hatte ich in der Autonomen Schule in Zürich einen Vortrag gehalten, in der Reihe «Die Welt am Donnerstag». Auf dem Plakat war ich als «Mafiaexperte» angekündigt gewesen. Das Internet vergisst bekanntlich nichts. So musste die Journalistin auf der eiligen Suche nach einem Mafiaerklärer auf meinen Namen gestossen sein. Ich fasste mir ein Herz und erklärte mich bereit, einige Einschätzungen über die italienischen Mafias in der Schweiz abzugeben. Und bat die Kollegin darum, mich nicht als Mafiaexperten anzukündigen, sondern als Journalisten, der sich mit dem Thema befasst. Aber selbst das war genau besehen eine Schummelei. Ich hatte mich in Mafiaangelegenheiten nie investigativ hervorgetan. Ich hatte einige allgemeine Texte publiziert, den mutigen italienischen Investigativjournalisten Giovanni Tizian und den Antimafiapolitiker Leoluca Orlando zum Interview getroffen. Viel mehr war da nicht.

Nachdem ich meine Einschätzungen abgeliefert hatte, wandte ich mich wieder meiner profanen Arbeit zu. Abermals vibrierte das Handy. «Guten Tag, hier Radio Energy. Sie sind doch Mafiaexperte …»

Nachfrage hoch, Angebot beschränkt

Ein Experte ist eine Person, die auf einem Gebiet oder in einem Fach besonders bewandert ist. Eine Autorität, eine Kapazität, eine Meisterin ihres Faches oder unprätentiöser: ein Sachkundiger, eine Sachverständige. Im rasenden Mediengeschäft ist die Nachfrage nach ExpertInnen hoch, das Angebot aber beschränkt. Also werden ExpertInnen gemacht. Diese ersetzen die Recherche, das eigene Nachdenken, das eigene Urteil. Ich bin kein Experte. Aber ich habe mich zum Instantexperten machen lassen, indem ich Auskunft gab.

Im Lauf meines Journalistenlebens habe ich immer wieder bei Staatsanwältinnen und Untersuchungsrichtern nach der Präsenz der Mafia in der Schweiz gefragt. Ergebnislos. Ich gab mich letztlich mit den stereotypen Antworten zufrieden. Aber nun redete ich mir in einem Sekundenbruchteil ein, dass ich mehr über die Mafia wüsste als der Durchschnitt, weil ich mir dazu eine kleine Bibliothek angelesen habe.

Muss sich die Bevölkerung fürchten? Nein. Die Schweiz dient den Mafias seit Jahrzehnten als Rückzugsraum und Finanzzentrum. Hier richten sie niemanden auf offener Strasse hin, hier bomben sie keine Richter und Staatsanwälte in die Luft. Sie lösen keine Leichen in Säure auf. Sie beherrschen hier keine Territorien. Der Quartierladen zahlt ihnen kein Schutzgeld. Sie hieven keinen Stadtrat mit gekauften Stimmen ins Amt. Noch nicht. Für die Mafias ist die Schweiz ein ehrbares Geschäftshaus, in dem sie ihre Büros haben und einander in Ruhe lassen. Niemand führt Krieg im Glashaus. Hier hecken sie aus, wie sie ihre Milliardengewinne mithilfe von Finanzdienstleistern in die legale Wirtschaft reinvestieren können. Das ist die wahre, die beängstigende Gefahr. Nicht Maschinenpistolen und Bomben.

Das weiss nur die Mafia

Noch in den siebziger Jahren leugnete das offizielle Italien die Existenz der Mafia. Erst nach einem unglaublich hohen Blutzoll hat man ihre Existenz und ihre Verbandelung bis in höchste politische Kreise anerkennen müssen und griffigere Gesetze entwickelt. Deutschland, das lange die Augen verschloss, stellt sich mittlerweile der Gefahr. Die offizielle Schweiz, auch die Justiz, spielt sie bei jeder Gelegenheit herunter.

Das alles sind Gemeinplätze. Das alles kann jeder wissen, der es wissen will. Es gibt gute Bücher dazu. Und was aktuell an der Mafiafront passiert, weiss nur die Mafia. Es geht schliesslich um Geheimorganisationen. Meine brüchige Legitimation: Ich habe jahrelang Literatur, gute und schlechte, gesammelt wie andere Briefmarken. Es war mein Hobby. Ich bin kein Experte. Ich bin ein Liebhaber.