Polizeimorde in Chicago: Sechzehn Schüsse
Ein Journalist und ein schwarzer Aktivist decken einen Skandal auf, der für die Zustände in US-Präsident Barack Obamas Heimatstadt steht: Chicago, die Schaltstelle demokratischer Macht, ist ein Sumpf aus Gewalt, Korruption und Rassismus.
Die Geschichte, die Chicago heute erschüttert, begann mit einer Mitteilung des Chicago Police Department: Am 20. Oktober 2014, so der Text, bedrohte der siebzehnjährige schwarze Teenager Laquan McDonald den Polizisten Jason Van Dyke mit einem 76 Millimeter langen Messer. Van Dyke und fünf weitere Polizisten hätten zu Protokoll gegeben, dass der Polizist noch versucht habe, den jungen Mann zu beruhigen. Dann aber sei McDonald mit dem Messer auf Van Dyke zugestürzt, und dieser habe keine andere Wahl gehabt, als ihn mit einem gezielten und tödlichen Schuss in die Brust zu stoppen.
Am Tag nach dem Vorfall tauchte Polizeisprecher Pat Camden am Ort des Geschehens auf und sagte: «Der junge Mann hat Van Dyke und seinen Partner massiv bedroht. Er musste sich verteidigen. Wenn dir ein Cop befiehlt, die Waffe fallen zu lassen, dann tu das.» Die JournalistInnen stenografierten und publizierten, ohne weitere Fragen zu stellen. Warum sollten sie auch: Chicago ist die Stadt mit der höchsten Mordrate in den USA. Allein im Januar 2016 wurden hier vor allem bei Auseinandersetzungen zwischen Gangs 51 Menschen ermordet. Und McDonald war nur einer von über zwanzig Schwarzen, die 2014 in Chicago von einem Polizisten erschossen wurden. Sein Tod war eine Randnotiz.
Ein Zeuge meldet sich
Eine Woche später erhielt der Journalist Jamie Kalven einen Anruf. Eine Quelle aus dem Kader des Polizeidepartements. Sie behauptete, die Polizei versuche, einen Mord zu vertuschen. 86 Minuten eines Überwachungsvideos einer Burger-King-Filiale am Ort des Geschehens seien bereits von einem Spezialisten des Polizeidepartements gelöscht worden. Wie sich später herausstellte, hatte sich dieser unter einem Vorwand Zugang zum Büro des Ladenmanagers verschafft – jetzt, so die Quelle, drohe auch noch ein sogenanntes Dashcam-Video aus einem Streifenwagen verloren zu gehen.
«Die Quelle war seriös, es gab keine Zweifel», sagt Kalven in seinem Büro in einer kleinen Lagerhalle in der South Side von Chicago, dem Sitz des Invisible Institute, einer nichtstaatlichen Organisation aus Journalistinnen und Anwälten, die Kalven im Jahr 2000 gründete, um die Arbeit des Chicago Police Department kritisch zu beobachten. Kurz vor unserem Treffen hat er erfahren, dass er für seine Recherche den renommierten George Polk Award erhalten wird.
Zwei Tage nach dem Telefongespräch mit seiner Quelle veröffentlichte Kalven einen ersten Blogeintrag, in dem er die offizielle Version des Todes von Laquan McDonald anzweifelte und die Stadt aufforderte, das Video zu veröffentlichen. Die Stadt verweigerte die Herausgabe, bestätigte aber dessen Existenz. Jetzt meldete sich eine andere Quelle bei Kalven: Es gebe einen Zeugen. Der Mann habe sich am Tag nach dem Vorfall bei der Polizei gemeldet, sei jedoch von den Beamten als Lügner bezeichnet und weggeschickt worden. Als Kalven den Mann ausfindig macht und besucht, verliert dieser die Nerven: «Ich stand draussen, es regnete in Strömen, aber er liess mich nicht hinein», sagt Kalven. «Er liess die Tür bloss einen Spalt weit offen. Immer wieder schrie er, er habe nicht darum gebeten, in diese Sache verwickelt zu werden. Er sei bloss ein einfacher Arbeiter. Ich merkte: Er hat Todesangst. Aber ich merkte auch: Er kann nicht damit leben zu schweigen. Dann sprudelte es aus ihm heraus.»
Der Zeuge wollte an jenem Abend seinen Sohn, der Bauchschmerzen hatte, ins Krankenhaus fahren, als plötzlich mehrere Streifenwagen die South Pulaski Road blockierten. Ein schwarzer Junge lief auf ihn zu. Dem Kid rutschten die Hosen runter, und während der Jugendliche vor den Beamten zurückwich, versuchte er sie mit beiden Händen festzuhalten. Ein Messer sah der Zeuge nicht. Plötzlich brauste ein weiterer Streifenwagen heran und stoppte direkt vor dem Jugendlichen. Ein Polizist sprang aus dem Wagen und schoss sofort zweimal. Der Junge fiel zu Boden und blieb in Embryostellung liegen. Zwanzig Sekunden lang passierte nichts. Dann schoss derselbe Polizist auf den reglosen Körper: einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal, sechsmal, siebenmal, achtmal, neunmal, zehnmal, elfmal, zwölfmal, dreizehnmal, vierzehnmal. Der Körper von Laquan McDonald schien am Boden zu tanzen.
Jamie Kalven besorgte sich den Autopsiebericht, der die Zeugenaussage stützte.
Zwei Worte waren es, die Chicago am 10. Februar 2015 erschütterten, der Titel seines Artikels, den Kalven auf Slate.com publizierte: «Sixteen shots», sechzehn Schüsse.
In der City Hall traf sich der Stadtrat kurz darauf zu einer Routinesitzung. Bürgermeister Rahm Emanuel schlug vor, der Familie des schwarzen Jungen – obwohl diese bisher noch nicht einmal geklagt hatte – fünf Millionen US-Dollar Abfindung zu bezahlen. Der Stadtrat stimmte zu, ohne selbst das Video gesehen zu haben. Der Entscheid war laut «Fox News» ohne Debatte und «innerhalb von fünf Sekunden während einer dreistündigen Routinesitzung gefallen». Die Zahlung enthielt eine Klausel: Nimmt die Familie das Geld, verzichten ihre AnwältInnen auf eine Klage – und vor allem darauf, das Video zu veröffentlichen.
«Im April, zwei Monate nach dem ‹Slate›-Artikel, stand Rahm Emanuels Wiederwahl an. Deshalb musste das Video verschwinden», sagt John Kass, Chefkolumnist der «Chicago Tribune». «Hätten die Anwälte der Familie das Video vor den Wahlen publiziert, hätte Rahm, ehemaliger Chef-Fundraiser von Bill Clinton und Exstabschef von Barack Obama, die Stimmen der Schwarzen verloren. Er wäre geliefert gewesen. Oder aber er hätte gesagt, dass dieser Cop dieses Kid kaltblütig ermordet hat. Dann hätte er die Stimmen der Polizisten verloren.»
Was war in jener Nacht wirklich passiert? CNN, die «Chicago Tribune», die «Washington Post», Jamie Kalven – sie alle beriefen sich auf den Freedom of Information Act und verlangten die Herausgabe des Videos. Doch die Stadt lehnte ab. Man wolle die laufenden Ermittlungen nicht stören, hiess es. «Wir Profis gaben uns mit dieser Antwort zufrieden, wir hatten sie nicht anders erwartet», sagt Kalven. Zum Glück, sagt er dann, sei Will Calloway kein Profi gewesen.
Das Video erscheint
«Ich sass vor dem TV und habe Gras geraucht», sagt der 26-jährige Will Calloway, der sich selbst als Black-Lives-Matter-Aktivisten bezeichnet. «Und da war in den News plötzlich die Rede von sechzehn Schüssen und von einem Video. Ich dachte: ‹Motherfucker, what? Sechzehn Schüsse? Ein Video? Und die wollen das nicht rausgeben?› Ich rief meinen Kumpel Brandon Smith an, einen Journalisten, ich sagte zu ihm: ‹Brandon, diese Motherfucker können uns das Video nicht vorenthalten.›» Und dann tat der junge Aktivist etwas, was die «Washington Post» nicht tat, CNN, Fox und die «Chicago Tribune» nicht, und worauf auch Jamie Kalven nicht kam: Will Calloway fragte die Stadt nicht nach dem Video, er verklagte sie.
«Wir dachten, dass er keine Chance hat», sagt Kalven. Doch am 19. November 2015 entschied Richter Franklin Valderrama, dass die Öffentlichkeit das Recht habe, das Video zu sehen, und dass der Stadt fünf Tage Zeit blieben, es zu veröffentlichen.
«In Chicago werden derartige Fälle eigentlich so gelöst: Die Stadt bezahlt den Angehörigen meist schwarzer Opfer eine hohe Abfindung, und die Sache versandet daraufhin», sagt Will Calloway. «Letztlich bedeutet das auch: Die Stadt lässt mutmassliche Mörder laufen.»
521 Millionen US-Dollar – so viel hat Chicago seit 2004 ausgegeben, um das Polizeidepartement gegen Klagen zu verteidigen und sich mit KlägerInnen durch die Zahlung hoher Millionensummen aussergerichtlich zu einigen. 400 Tage – so lange hatte die zuständige Staatsanwältin Anita Alvarez nichts gegen den Polizisten Jason Van Dyke unternommen. Er tat weiter Dienst, obwohl inzwischen auch bekannt geworden war, dass es gegen ihn in der Vergangenheit mehrere Klagen gegeben hatte wegen rassistischer und gewalttätiger Übergriffe – in einem Fall hatte die Stadt einem Opfer 500 000 Dollar Abfindung bezahlt. «Alvarez ging wohl davon aus, dass das Video nie öffentlich wird und die Sache versandet», sagt Calloway.
Nach dem Gerichtsentscheid steckte die Staatsanwältin den Polizisten direkt vom Streifendienst in die Zelle und klagte ihn innerhalb von 24 Stunden wegen Mordes an. Als hätte sie das Video bis dahin nicht gesehen. Dann erschien das Video. Es verschlug Chicago den Atem. Kalvens Zeuge hatte sich präzis erinnert. Emanuel feuerte den Polizeichef.
Umgehend nach der Veröffentlichung liess der Bürgermeister ausrichten, dass er das Video, für das er dem Stadtrat fünf Millionen Dollar abgerungen hatte, selbst gar nie gesehen habe. Es half nicht: Seine Umfragewerte sanken auf siebzehn Prozent, und am 15. Januar 2016 boykottierten über hundert afroamerikanische Priester das seit Jahrzehnten traditionelle Frühstück mit dem Bürgermeister anlässlich des Geburtstags von Martin Luther King. Einer, der dennoch zur Veranstaltung ging, war Pfarrer Martin Ross. Als Rahm Emanuel feierlich das Wort erheben wollte, stand Ross auf und skandierte: «Sixteen shots and a cover-up!» – Sechzehn Schüsse und eine Vertuschung.
Jamie Kalven sitzt in seinem Büro in der South Side und fragt: «Was sagt das über ein Polizeidepartement, eine Stadt und eine Gesellschaft aus, wenn insgesamt 81 PolizistInnen – das ist heute klar – in die Vertuschung eines Mordes an einem schwarzen Teenager involviert sind?»
Eine typische Nacht
Schon in den sechziger Jahren, schrieb der Journalist Mike Royko in seinem Chicago-Bestseller «Boss», sei die Polizei von Chicago die korrupteste im ganzen Land gewesen: «Eine typische Nacht im Chicago der Sechziger: Die Cops waren unterwegs, um Schutzgeld zu kassieren.» Und Dutzende Polizisten arbeiteten als organisierte Einbrecher. Sie transportieren die Ware im Streifenwagen ab. Und dann kam die «Midnight Crew»: Polizisten, die zwischen 1972 und 1991 von 125 Afroamerikanern mit Elektroschocks, Scheinexekutionen, russischem Roulette und Schlägen Geständnisse erzwangen, um die Verbrechensaufklärungsrate zu verbessern. Erfolterte Geständnisse, die mindestens zehn mutmasslich Unschuldige in die Todeszelle brachten.
Im Februar 2015 gestand die Stadt nach langem juristischem Hin und Her den Betroffenen insgesamt 5,5 Millionen Dollar Abfindung zu wegen «rassistisch motivierter Polizeigewalt». Kaum war der Entscheid publiziert, deckte der «Guardian» auf, dass das CPD seit 2004 in einem verlassenen Warenhaus am Homan Square über 3000 vornehmlich arme, schwarze Kleinkriminelle widerrechtlich verhört, bedroht, geschlagen hatte, ihre Festnahmen nicht protokolliert und ihnen das Recht auf einen Anwalt verweigert hatte.
Die afroamerikanische Community traut deshalb der Polizei in Chicago alles zu. «Weisst du, was ein Drop ist?», fragt Prexy Nesbitt, Professor für Afrikanische Studien am Columbia College. «Wenn Cops auf Streife gehen, nehmen sie einen sogenannten Drop mit, eine extra Pistole oder ein extra Messer. Und wenn sie jemanden abknallen, lassen sie diesen Drop liegen und sagen: ‹Damit sind wir bedroht worden.›»
Ausgerechnet zum Ende von Obamas Amtszeit ist das demokratische Establishment in Chicago mit massiven Protesten konfrontiert. Wo Rahm Emanuel oder Staatsanwältin Anita Alvarez seit November auftauchten, forderten AktivistInnen ihren Rücktritt. Der «New Yorker» schrieb: «Der jähe und wohlverdiente Fall von Rahm Emanuel». Am 15. März 2016, als in Chicago nicht nur die Vorwahlen zur US-Präsidentschaft stattfanden, sondern auch die der lokalen StaatsanwältInnen, verweigerten die WählerInnen Alvarez die dritte Amtszeit.
Ein Chef in Not
Im Büro von John Kass hängt das Poster zu einem fiktiven Film, das ihm ein Freund gebastelt hat: «Rahmfather», in Anspielung auf Francis Ford Coppolas «Godfather», den Mafiapaten. Als Chefkolumnist der konservativen «Chicago Tribune» ist Kass die Stimme der weissen Suburbs, jener Kreise also, die Emanuel ins Amt gewählt haben. Aber Kass ist jetzt, «seit dieser unfassbaren Sache mit diesem Kind», auf der Jagd, und er will nicht aufhören, bis er den Paten erlegt hat. Um zu verstehen, warum Emanuel noch immer im Amt sei, müsse man die politischen Strukturen dieser Stadt verstehen, die seit fünfzig Jahren von einer einzigen Partei regiert werde: «Chicago ist eigentlich eine sowjetische Stadt», sagt der Journalist.
«Rahm Emanuel ist derart korrupt, dass er sich selbst korrumpiert hat», sagt Kass weiter. «In einem feudalen Politsystem wie in Chicago gibt es nicht Besseres für die Diener, als einen Chef in Not. Rahm blutet, er muss die Wunde schliessen. Die Leute in der City Hall fragen sich: ‹Was will ich von Rahm? Kann ich meinem bescheuerten Schwager vielleicht einen Job verschaffen als Deputy Commissioner?› Was immer sie wollen, sie kriegen es jetzt von ihm.»
So bekommt auch die afroamerikanische Community plötzlich Geschenke, die ihr jahrelang verweigert worden waren: Ein Notfallzentrum etwa für Menschen, die angeschossen werden, was in Chicago vor allem Schwarze sind. «In der gesamten schwarzen South Side gibt es kein solches Zentrum, obwohl wir seit vielen Jahren dafür protestiert haben», sagt Community-Aktivist Jitu Brown, dessen Stiefsohn starb, weil der Transport in die weisse North Side zu lange gedauert hatte, nachdem er auf der Strasse angeschossen worden war.
Jitu Brown zeichnet das Bild einer segregierten, kollabierenden Stadt: Vergangenen Sommer absolvierte er zusammen mit LehrerInnen und Eltern einen 34-tägigen Hungerstreik gegen Rahm Emanuel – konkret ging es um die Schliessung der zweitletzten öffentlichen Schule im schwarzen Bezirk Bronzeville. «Seit Rahm die Stadt regiert, wurden über fünfzig öffentliche Schulen in vornehmlich afroamerikanischen und Latinonachbarschaften geschlossen, um die Privatisierung voranzutreiben», sagt Brown. «Kids aus ärmeren Vierteln verlieren noch stärker den Zugang zu Schulen. Wir reden hier von Vierteln wie Roseland, durchgehend schwarz, mit einer Arbeitslosenquote von sechzig Prozent – und das seit drei Generationen.»
«Die Narben der Rassenunruhen von 1919 mit Dutzenden Toten sind bis heute nicht verheilt», sagt der 97-jährige Timule Black, in den sechziger Jahren Martin Luther Kings Statthalter und Klassenkamerad des späteren Jazzpianisten Nat King Cole an der Wendell Phillips High School in Bronzeville. «Als die Schwarzen Anfang des 20. Jahrhunderts aus wirtschaftlichen Gründen und wegen des rassistischen Terrors aus dem Süden nach Chicago kamen, war es ihnen nur gestattet, in gewissen Gegenden zu leben. Es sei denn, sie waren Diener. Als Richard J. Daley 1955 Bürgermeister wurde, meisselte er die Segregation in Stein: Er gab Hunderte Millionen für eine boomende Downtown aus, während er die Slums sich selbst überliess. Die Schwarzen verhungerten in ihren Ghettos, und Daley baute mit der Hälfte des städtischen Budgets Dutzende neue Polizeigebäude. Das hat das Klima in der Stadt für immer geprägt.»
«Die Leute verlassen in Chicago ihre Viertel nicht», sagt Prexy Nesbitt, der neben seiner Columbia-Professur in den achtziger Jahren eine zentrale Figur der US-amerikanischen Antiapartheidbewegung war. «In Südafrika gab es den Group Areas Act, der Schwarz und Weiss trennte. In Chicago erledigt das eine riesige Polizeipräsenz.» Nesbitt war auch der persönliche Assistent des ersten schwarzen Bürgermeisters Chicagos, Harold Washington, der 1983 gewählt wurde und vier Jahre später während einer Sitzung tot zusammenbrach. «Mit Harold hatte sich das Klima etwas geändert, weil er viele Afroamerikaner in die Polizei aufnahm», sagt Nesbitt. «Gleichzeitig erinnere ich mich an eine Sitzung mit zwei Latinopriestern, die von der Polizei zusammengeschlagen worden waren: Harold kam zu mir und sagte: ‹Ich kann mich mit diesem Dreck nicht beschäftigen.› Und zu den beiden Priestern sagte er: ‹Ich bin der Bürgermeister, aber ihr wisst, dass ich im Polizeidepartement nichts zu sagen habe.›»
Es brauche mehr als den Abgang von Rahm Emanuel, sagt Nesbitt. Zum Beispiel einen anderen Umgang mit Schusswaffen. «Die Weissen bewaffnen sich bis auf die Zähne, weil sie sich zu Tode fürchten vor den Schwarzen. Das ist eine Rassenproblematik. Und dann die Ganggewalt: Ich habe Studenten, die zu mir sagen: ‹Ich will eine Waffe tragen im Klassenzimmer.› Viele Schwarze in Chicago kommen wie ich aus dem Süden. In der Kultur des Südens sind Waffen wie Stifte. Jeder hat sie, jeder braucht sie. Mein Vater brachte mir Schiessen bei, da war ich acht. Sich zu bewaffnen ist Teil unserer Kultur.»
Schwarze, die in den Armenvierteln Chicagos beinahe täglich Schwarze erschiessen: «Etwas, worüber die Leute weniger gerne reden», sagt Rapperin Chella H, die in einer der ärmsten Gegenden der South Side aufgewachsen ist. «Die Ganggewalt entzündet sich an Nichtigkeiten. Ein Nigger redet Müll auf Twitter, er geht offline und wird ein paar Stunden später in der echten Welt dafür erschossen.»
Im Norden weggeschickt, im Süden angeklagt
«Wenn du verstehen willst, was hier passiert», sagen Bernardine Dohrn und Bill Ayers, «dann müssen wir zum Gericht fahren.» Die beiden Mittsiebziger sind Teil eines anderen Kapitels dieser gewalttätigen Stadt: Als Chicagoer Polizisten 1969 den Black-Panther-Aktivisten Fred Hampton im Schlaf mit sechzig Schüssen hinrichteten, formierten sie sich zur Gruppe The Weather Underground und sprengten mehrere Polizeistationen in die Luft (weil sie ihnen telefonische Warnungen zukommen liessen, blieb es bei Sachschaden). In den Achtzigern wurden Dohrn und Ayers ProfessorInnen für Recht beziehungsweise Bildung und blieben AktivistInnen, und heute, nach der Pensionierung, engagieren sie sich gegen die «School-to-prison Pipeline», wie Ayers es nennt, ein System, in dem für Kids, vornehmlich arm und schwarz, die Zukunft hinter Gittern schon in der Schule beginnt.
Wir fahren also raus zum Gericht, und dort sind wir – neben Richtern, Anwältinnen und Polizisten – für den Rest des Tages die einzigen Weissen. Wir sitzen auf Stühlen neben Angehörigen und blicken durch trübe, braun verfärbte Fenster in den Gerichtssaal und beobachten, wie im Viertelstundentakt meist junge, schwarze Männer abgeurteilt und abgeführt werden. Waffenbesitz, Drogenbesitz, Verstoss gegen Bewährungsauflagen.
Von hier werden die Männer in den angrenzenden Cook County Jail überstellt, das grösste Gefängnis der USA, einen privatisierten Komplex mit insgesamt 9000 Gefangenen und 11 000 Angestellten, wo die Unterhaltskosten so tief wie möglich gehalten werden und deshalb InsassInnen durch das Personal oder Mitgefangene schwer misshandelt werden, wegen Platzmangel auf dem Boden schlafen müssen, im Schlaf durch Ratten verletzt werden und sich das Leben nehmen, weil es keine Suizidprävention gibt. Das alles kann man in einem dicken Bericht des US-Justizministeriums über den Cook County Jail nachlesen. Und auch das steht dort: Nur elf Prozent der InsassInnen sind weiss.
«Die Stadt würde sagen: In den schwarzen Gegenden der Stadt gibt es mehr Gewalt, deshalb braucht es mehr Polizei. In dieser Aussage steckt eine Wahrheit, aber die ganze Wahrheit ist eine andere», sagt Bernardine Dohrn. «Es ist erwiesen, dass Schwarze und Weisse gleich viel Drogen konsumieren. Es ist aber auch erwiesen, dass in der schwarzen South Side zehnmal mehr Menschen wegen Drogenbesitz verhaftet werden als im weissen Norden, wo die Stadt eine völlig andere ist. Wird im Norden eine lärmige Party aufgelöst, schickt die Polizei die Leute weg. Im Süden werden die Leute gefilzt, verhaftet und angeklagt. Rasse spielt eine zentrale Rolle.»
Jamie Kalven vom Invisible Institute hatte nach siebenjährigem Kampf vor Gericht erstritten, dass die Stadt alle Beschwerden publizieren muss, die vonseiten der Bevölkerung wegen Übergriffen durch die Polizei eingehen. Am 10. November 2015 veröffentlichte das Institut im Internet eine Datensammlung von 56 000 Beschwerden wegen Fehlverhalten gegen 8500 Chicagoer PolizistInnen, eingegangen zwischen 2011 und 2015. Die Daten zeigen, dass neunzig Prozent der Beschwerden aus den beiden schwarzen und hispanischen Bezirken stammen, der South Side und der West Side, und dass gerade mal zwei Prozent der Beschwerden erfolgreich sind, davon die meisten wiederum von jenen knapp zehn Prozent weisser BeschwerdeführerInnen, die zudem dann am aussichtsreichsten sind, wenn sich die Beschwerden gegen schwarze PolizistInnen richten.
«Durch die Daten gewinnen wir viele wichtige Informationen», sagt Kalven. «Sie zeigen: Die meisten Betroffenen sind schwarz, und sie sind arm. Der entscheidende Faktor für Missbrauch durch die Polizei und dafür, mit solchem Missbrauch davonzukommen, ist der soziale Status der Opfer. Es ist eine Frage der Rasse und der Klasse.»
«Chi-Raq», die gescheiterte Stadt
RapperInnen wie Chella H haben Chicago längst einen neuen Namen gegeben: «Chi-Raq», die gescheiterte Stadt. Eine Stadt, die derart pleite und auseinandergerissen ist, dass AktivistInnen den Schulunterricht übernehmen – so zum Beispiel jeden Dienstag die 26-jährige Anwältin Chaclyn Hunt an der Hyde Park Academy, die fast ausschliesslich von schwarzen Kids besucht wird. Hunt lehrt dort den Teenagern in Rollenspielen den Umgang mit der Polizei, welche Rechte sie haben, wo und wie man sich beschwert.
Die Hyde Park Academy gleicht einer Festung: Vor dem Eingang stehen jeden Tag vier Streifenwagen, und in der Schule selbst sind vier PolizistInnen postiert. Kommt es zu Auseinandersetzungen auf dem Schulhof, kümmert sich nicht die Schulleitung, es kümmert sich die Polizei. «Die School-to-prison Pipeline», sagt Bill Ayers, «die Schule als Ort, wo man den Kids nicht mehr zuhört, sondern sie wegen Bagatellen wegsperrt.»
Einer der Polizisten, die an der Hyde Park Academy über die SchülerInnen wachen, heisst Darren Wright. Vor sieben Jahren hat Wright in seiner Freizeit den siebzehnjährigen schwarzen Schüler Corey Harris erschossen. Harris war Klassenstreber, Captain des Basketball- und des Baseballteams, keine Verbindungen zu Gangs. Wright behauptete später, Harris sei mit einer Pistole auf ihn zugekommen, doch Zeugen widersprachen: Wright habe ohne Warnung auf eine Gruppe schwarzer Jugendlicher geschossen. Harris sei nicht auf Wright zugegangen, sondern vor ihm davongerannt. Dann kam die Autopsie: Der Teenager starb durch einen Schuss in den Rücken. Die Stadt regelte die Sache auf Chicago-Art: Die Familie erhielt 1,2 Millionen Dollar Abfindung, die Untersuchung wurde eingestellt. Keine Fragen, keine Antworten, und der Polizist zurück auf Streife.