Bürgermeisterwahlen: Ein Wandel für Chicago?
In der drittgrössten Stadt der USA dominiert die hohe Kriminalität den Wahlkampf. Nun könnte ein Politiker ins Rathaus einziehen, der einen radikal anderen Umgang mit Gewalt verspricht.
Wer mit Camiella Williams durch das Chicagoer Stadtviertel Englewood fährt, spürt, wie sehr sie an ihrer alten Heimat hängt. Sie zeigt auf den Kiosk, an dem sie früher Fruchtgummis für 75 Cent kaufte. Dieselbe Marke, die sie sich heute immer noch holt. Sie erzählt vom Shoppingcenter, das es nicht mehr gibt, Evergreen Plaza, «von allen nur Everblack genannt», weil fast alle Besucher:innen Schwarz waren.
Erinnerungen an jeder Ecke. Und an jeder zweiten nennt Williams einen neuen Namen: Deonte. Starkesia. Rekia. Porshe. Terrell. Wie viele Menschen sie in ihrem Leben durch Gewalttaten verloren hat? «Es müssen über fünfzig sein.» Freundinnen, Cousins, Lehrerinnen, Bekannte.
«An manchen Tagen weiss ich einfach nicht mehr weiter», sagt die 35-jährige Mutter von zwei Söhnen, als sie an einer Ampel hält. Angst, schiebt sie wie im Reflex hinterher, habe sie aber keine. Williams zeigt neben sich auf das kleine Fach in der Autotür. Dort liegt ihre Pistole. Dass Selbstbewaffnung keine langfristige Lösung ist, muss man ihr allerdings nicht erzählen.
Zwei Drittel fühlen sich nicht sicher
Wenn Chicago, mit 2,7 Millionen Einwohner:innen die drittgrösste Stadt der USA, am 4. April einen neuen Bürgermeister wählt, wird der Süden der Stadt, wo Englewood liegt, eine entscheidende Rolle spielen. Es sind allerdings nicht die Leute dort, ihre Armut und ihre Sorgen, die im Mittelpunkt der Debatte stehen. Zentral ist auch nicht die Gewalt in Englewood allgemein, die sich durch die sozialen Verhältnisse und die teils repressiven Institutionen in den Alltag drückt und zwischen den Menschen explodiert. Sie wird von den politischen Verantwortlichen als Problem nur sehr selektiv wahrgenommen: Das dominierende Thema dieser Wahl ist «crime», Kriminalität.
Kriminalität und Gewalt haben natürlich miteinander zu tun. Doch die ausschliessliche Fokussierung der meisten Politiker:innen auf Ersteres verhindert in Vierteln wie Englewood geradezu eine Auseinandersetzung mit den Ursachen von Gewalt.
Chicago ist für die hohe Kriminalität bekannt. Allein im Jahr 2022 wurden in der Stadt am Michigansee 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es sogar 804 gewesen. So hoch waren die Zahlen zuletzt in den neunziger Jahren. Auch die Gesamtmenge der Straftaten ist in den vergangenen Jahren laut Polizei gestiegen. 2022 wurden pro Tag durchschnittlich 59 Autodiebstähle gemeldet. Schiessereien gehören zum Alltag. Laut aktuellen Umfragen fühlen sich zwei Drittel der Einwohner:innen von Chicago nicht sicher.
Hat man diese Statistiken im Kopf, überrascht es kaum, dass das Thema den Wahlkampf dominiert. Und doch ist dieses Jahr etwas besonders. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es einen aussichtsreichen Kandidaten, der anders über Gewalt und Kriminalität nachdenkt – der nicht noch mehr Polizei in Viertel wie Englewood schicken, sondern im Gegenteil so viele Sicherheitsbeamt:innen wie möglich durch Sozialarbeiterinnen, Therapeuten und Lehrer:innen ersetzen will.
Brandon Johnson heisst der Mann, der einen linken Wandel für Chicago anstrebt. Der 47-jährige Afroamerikaner war Lehrer an einer öffentlichen Schule und Gewerkschaftsaktivist, bevor er Politiker wurde. Aktuell sitzt er im Parlament des Cook County, des Verwaltungsbezirks, in dem Chicago liegt. Johnson wohnt mit seiner Familie in Austin, einem überwiegend prekären Viertel im Westen der Stadt. Er weiss, wie sich Schüsse aus der Nähe anhören. Und er gibt zu, dass er manchmal Angst hat, wenn seine Kinder draussen spielen. «Glaubt mir», sagt Johnson, «mir liegt persönlich etwas daran, dass wir das Problem lösen.» Gerade deshalb möchte er einen Bruch mit der alten Politik.
Sozialarbeiterinnen statt Polizei
Anders als sein Kontrahent, der 69-jährige Paul Vallas. Dieser will den Strafapparat weiter ausbauen. Vallas war in den vergangenen Jahrzehnten in diversen Metropolen Chef der Schulbehörde, er sorgte in Chicago, Philadelphia und New Orleans dafür, dass Teile des Bildungssystems privatisiert und an den Schulen rigidere Teststandards eingeführt wurden. Damit in Chicago «law and order» zurückkehren, will er Tausende weitere Polizist:innen einstellen. Mit diesem Versprechen konnte er im ersten Wahlgang Ende Februar vor allem die wohlhabenden, überwiegend weissen Wähler:innen im Zentrum und im Norden der Stadt überzeugen. Vallas landete – bei einer Wahlbeteiligung von nur 36 Prozent – vor Johnson auf Platz eins. Die demokratische Amtsinhaberin Lori Lightfoot, die in den letzten vier Jahren weitgehend orientierungslos agierte, stürzte ab.
Die Stichwahl ist ein Duell zwischen zwei politischen Visionen. Johnson und Vallas sind zwar beide Demokraten, könnten aber innerhalb der Partei kaum weiter voneinander entfernt stehen. Johnson kommt aus der Gewerkschaftsbewegung, Vallas aus der Bürokratie. Johnson will Ressourcen umverteilen, Vallas Macht zementieren. Johnson wird von progressiven Graswurzelbewegungen unterstützt, Vallas von der Polizeilobby. Er sei «mehr Republikaner als Demokrat», hat Vallas selbst mal über sich gesagt. Es fällt nicht schwer, ihm das zu glauben.
Von Bedeutung ist diese Wahl weit über die Grenzen von Chicago hinaus. Der Umgang mit Gewalt und Kriminalität ist eine zentrale Frage der US-Politik. Republikaner:innen und rechte Medien haben in den vergangenen Jahren die «crime panic» besonders geschürt: Weil die Demokrat:innen in den Städten nicht hart genug regierten, versinke das ganze Land im Chaos, so ihre Erzählung. Die Demokrat:innen ziehen bereitwillig mit und versprechen vor jeder Wahl noch mehr Polizei. Für beide Parteien gilt: Im Umgang mit Kriminalität wollen sie auf keinen Fall zu milde wirken.
Nun könnte ausgerechnet in Chicago ein Gegenexperiment beginnen. Johnson verspricht zwar keinen radikalen Abbau der Polizei, aber einen radikalen Wandel im Umgang mit Gewalt. Sollte er gewinnen, hätte die linke Bewegung Macht demonstriert – sie stände aber auch sofort unter enormem Druck. Denn sie müsste beweisen, dass es anders geht.
Camiella Williams trägt einen blauen Kapuzenpullover, auf dem «GoodKidsMadCity» steht. So heisst die Community-Organisation, bei der sie als Mentorin aktiv ist. Der Name ist eine Anspielung auf das legendäre Album des Rappers Kendrick Lamar. Natürlich ist es auch eine politische Botschaft: Nicht die Kids sind das Problem, sondern die Umstände, denen sie ausgesetzt sind.
Good Kids Mad City wurde 2018 in Englewood gegründet. Mehrere Hundert Jugendliche sind dort mittlerweile aktiv. Sie treffen sich, um über Konfliktlösungen zu sprechen, organisieren Basketballturniere und Proteste, unterstützen die Angehörigen von Gewaltopfern. Sie setzen sich dafür ein, dass in ihre Quartiere investiert wird: neue Jobs, bessere Bildung, Zugang zu Gesundheitsversorgung, mehr Sportplätze. Sie wollen Gewalt präventiv entgegenwirken. Und sie fordern eine Abschaffung der Polizei.
Williams, die mittlerweile in einem Vorort südlich von Chicago wohnt, versucht, ihre Erfahrung an die jungen Aktivist:innen weiterzugeben. Sie sagt ihnen nicht: Gebt eure Waffen ab. Sie sagt: Fangt keinen Streit an. Sie fordert nicht: Verlasst eure Gangs. Denn sie weiss: Das passiert nicht einfach so. «Ich nehme sie ernst», sagt sie, «indem ich ihnen meine Verletzbarkeit zeige.»
Williams war zehn, als ihr Vater an Aids starb. Ihre Eltern waren da schon eine Weile geschieden. Dann erfuhr sie, dass ihre Mutter Brustkrebs hatte. Zu viel für ein Kind, vor allem, wenn es keine professionelle Hilfe bekomme. Williams suchte Prügeleien, egal mit wem. Sie kaufte sich ihre erste Pistole, da war sie elf. Sie schloss sich einer Gang an und begann, mit Drogen zu dealen. Sie entwickelte eine «Vorliebe für Gewalt», wie sie sagt.
Im März 2006, Williams war neunzehn und zum ersten Mal schwanger, wurde ein vierzehnjähriges Mädchen in der Nachbarschaft durch den Irrläufer aus einem Sturmgewehrs getötet. «Sie bringen jetzt auch Kinder um», sagte sich Williams damals. Sie wusste, dass sie irgendwie da rausmusste. Sie begann ein Studium und trat verschiedenen aktivistischen Gruppen bei. «Als ich als politische Organizerin angefangen habe, wurde mir beigebracht, dass man seine Wut besser nicht zeigt», sagt sie. «Die Kids von heute sind zum Glück radikaler.»
In kaum einer Stadt ist die Bewegung so stark wie in Chicago. Neben Good Kids Mad City gibt es hier diverse Organisationen, die für den Abolitionismus kämpfen, also die Überwindung von Polizei und Gefängnissen. Da ist zum Beispiel das Project NIA, von der Vordenkerin Mariame Kaba initiiert, das speziell Kinder und Jugendliche aus dem Strafsystem holt. Da sind Assata’s Daughters, benannt nach der Schwarzen Freiheitskämpferin Assata Shakur, die politische Bildung anbieten und Aktivist:innen schulen. Auch Kollektive wie BYP100, Love & Protect oder das «Rampant Magazine» setzen sich dafür ein, den Strafapparat obsolet zu machen. Sie wollen ein Justizsystem, in dem der Schutz armer und nichtweisser Menschen sowie von Frauen und Queers zentral ist. Gewalttäter:innen sollen nicht einfach weggesperrt werden, sondern mithilfe von psychologischer Betreuung, Unterstützung durch Mediator:innen und Versöhnungsprozessen Verantwortung in den Communitys übernehmen.
Chicago ist wieder einmal Wegbereiter. So war es schon im 19. Jahrhundert, als dort der Tag der Arbeit geboren wurde. So war es in den Sechzigern, als der Black-Panther-Vorsitzende Fred Hampton die revolutionäre Rainbow Coalition ins Leben rief. So war es auch 2012, als Zehntausende Lehrer:innen streikten und damit der US-Arbeiter:innenbewegung Schwung verpassten. Chicago ist die Stadt, in der eine wiedererstarkte Gewerkschaftsbewegung auf einen Schwarzen, linken Feminismus trifft. Sollte Brandon Johnson die Wahl zum Bürgermeister gewinnen, hätte er das vor allem den Graswurzelbewegungen der vergangenen Jahre zu verdanken.
Linker geht kaum
Als Johnson und Vallas Mitte März in einem vollen Saal der University of Illinois im Zentrum Chicagos über öffentliche Sicherheit diskutieren, werden die Unterschiede sofort sichtbar. Johnson schwingt sich locker auf die Bühne, deutet mit dem Zeigefinger ins Publikum. «Hey, hey, hey», sagt er und versucht auf einer Art Barhocker eine Sitzposition zu finden, was gar nicht so einfach zu sein scheint. «Bringt mal jemand einen Stuhl für die arbeitende Klasse?», fragt er. Die Leute lachen.
«Die sichersten Städte der Welt haben eines gemeinsam: Sie investieren in die Menschen», sagt Johnson und nennt zwei Rechtsverordnungen, die er als Bürgermeister durchsetzen will. Im «Peace Book» steht, dass vom zwei Milliarden Dollar schweren Polizeibudget 35 Millionen abgezogen und in Jugendprogramme gesteckt werden sollen. Die «Treatment Not Trauma»-Gesetzesinitiative soll psychiatrische Einrichtungen, die geschlossen wurden, wiedereröffnen und eine neue Krisenhotline einführen. Vallas wirkt dagegen blass und verbissen, er redet schnell und verhaspelt sich oft. Immer wieder spricht er von «community», doch das kauft ihm hier niemand ab. Die rund 2000 Zuschauer:innen reagieren auf seine Forderung nach mehr Polizei mit Unmut.
Nimmt man nur diesen Abend zum Massstab, müsste Johnson am 4. April haushoch gewinnen. Doch die Stimmung im Unisaal spiegelt jene in der Stadt nur bedingt wider. Vallas lag bei der ersten Wahl im Februar schliesslich vorne, in aktuellen Umfragen liegen die beiden Kopf an Kopf. Ein Grossteil der Bevölkerung unterstützt zwar deutliche Reformen. Für eine Abschaffung von Polizei und Gefängnissen finden sich aber keine Mehrheiten.
Noch nicht, sagen Aktivist:innen wie Camiella Williams. Sie finden, dass sich die politischen Bedingungen radikal wandeln müssen, damit ihre Ideen von restorativer statt bestrafender Justiz funktionieren. Auch in dieser Hinsicht ist die Wahl in Chicago etwas Besonderes. Geschlossen steht die abolitionistische Bewegung hinter Johnson – und das, obwohl ihre Mitglieder dem Staat kaum vertrauen. Linker als er, darüber herrscht fast Einigkeit, kann jemand, der ernsthaft Bürgermeister von Chicago werden will, im Jahr 2023 schwer sein.
Nachtrag vom 13. April 2023 : Erster Test für den neuen Bürgermeister
Brandon Johnson, der linke Kandidat für das Bürgermeisteramt von Chicago, hat am 4. April die Wahl überraschend gewonnen. Johnson hatte in seiner Wahlkampagne einen radikal anderen Umgang mit der steigenden Gewalt in Chicago versprochen. Allein im Jahr 2022 wurden in der Stadt am Michigansee 695 Menschen getötet. Im Jahr davor waren es sogar 804 gewesen. So hoch waren die Zahlen zuletzt in den neunziger Jahren. Der Schwarze Demokrat Johnson, der am Ende 20 000 Stimmen Vorsprung auf seinen Konkurrenten Paul Vallas hatte, steht der «Defund the police»-Bewegung nahe. Er verspricht zwar keine Abschaffung der Polizei, aber einen Umbau. Vom 2 Milliarden Dollar schweren Polizeibudget will Johnson 35 Millionen Dollar abziehen und in Jugendprogramme stecken. Er verspricht den von Armut und Gewalt betroffenen Vierteln zudem Geld für Wohnbauprojekte, Sozialarbeiter:innen, Drogenberatung oder psychiatrische Versorgung.
Noch im ersten Wahlgang war Johnson seinem Rivalen Paul Vallas – der am rechten Rand der demokratischen Partei politisiert und für einen harten Law-and-Order-Kurs steht – deutlich unterlegen. Gemäss Wahlanalysen sorgten in erster Linie die jungen Stadtbewohner:innen zwischen 18 und 24 Jahren, die im zweiten Wahlgang weit zahlreicher an die Urne gingen, für seinen Sieg. Dieser dürfte auch im Hinblick auf die US-amerikanischen Vorwahlen eine Rolle spielen – wenn es darum geht, ob die Demokrat:innen eher auf progressive Kandidat:innen wie Johnson oder konservative wie Vallas setzen sollten.
Der erste Test steht für Johnson bald an: Er muss die oder den nächste:n Chef:in der Chicagoer Polizei bestimmen. Ein ziviler Aufsichtsausschuss wird bis Mitte Juni drei Kandidat:innen nominieren.