Vor 25 Jahren: Was von der Verluderung bleibt
«Die Schweiz ist ein verluderter Staat», schrieb Max Frisch vor 25 Jahren in der WOZ. Stimmt der Satz noch?
«Wenn ich von der Schweiz rede, so rede ich nicht von den Landschaften (…), sondern ich meine den Staat, 1848 eine grosse Gründung des FREISINNS, heute unter der jahrhundertlangen Dominanz des Bürgerblocks ein verluderter Staat (…)»
Dieser Satz von Max Frisch findet sich in einem offenen Brief an Marco Solari, den Delegierten des Bundesrats für die 700-Jahr-Bundesfeier. Die WOZ hatte das Schreiben am 15. März 1991 – also just vor 25 Jahren – auf ihrer Titelseite veröffentlicht. Frisch lehnte darin die Einladung ab, als Gast an einem Festakt teilzunehmen. Zur Begründung seiner negativen Einschätzung des Staates verwies er auf den 1989 aufgedeckten Fichenskandal: Die Bundespolizei hatte jahrzehntelang Hunderttausende überwacht und als Staatsfeinde verdächtigt. Darunter auch Max Frisch.
Auf Treibjagd
Hätte Frisch, der nur drei Wochen nach dem Erscheinen des offenen Briefes starb, die weitere Entwicklung der Bundespolitik erlebt, hätte er wohl noch des Öfteren von Verluderung sprechen müssen. Anlass dazu gab es zur Genüge. Beispielsweise die zögerliche und teilweise verlogene Aufarbeitung der Frage der nachrichtenlosen Vermögen oder die schlitzohrige Verteidigung des verrotteten Bankgeheimisses. Zudem zeigten das Grounding der Swissair 2001 und später die Rettung der UBS, dass nicht nur im Staat, sondern auch in Wirtschaft und Politik Verluderung um sich griff. Die Wahl von Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz in den Bundesrat 2007 war gewissermassen die offizielle Bestätigung des bedenklichen Niedergangs der liberalen staatsbürgerlichen Gesinnung.
Weit schlimmer als diese Affären war jedoch, was sich im Kernbereich des politischen Systems abspielte. Mit der Abstimmung über den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum am 6. Dezember 1992 setzte unter dem Zepter der SVP ein Prozess ein, der langsam, aber sicher die Politik verseuchte.
Mit permanenten Hetzkampagnen gegen die EU, die AusländerInnen und die sogenannten fremden RichterInnen gelang es der Partei, ihre Agenda der Landespolitik aufzuzwingen. Das Wahlvolk wurde wie auf einer Treibjagd von Abstimmung zu Abstimmung gehetzt. Die andern Parteien standen meist sprachlos am Rand oder liebäugelten gar mit den Parolen der nationalen Rechten.
Spätestens mit der «Durchsetzungsinitiative» wurde offensichtlich, dass die Führungsclique der SVP nicht nur die Macht anpeilte, sondern sich vielmehr auch daran machte, den demokratischen Rechtsstaat auszuhebeln. Nun ist ja mit der Ablehnung fürs Erste dieser antiliberale und staatsgefährdende Sturmlauf gestoppt worden. Dem moralischen Zerfall der politischen Kultur ist allerdings noch lange nicht Einhalt geboten.
Autoritäre Ausgrenzung
Max Frischs Kurzformel vom verluderten Staat blendet übrigens einen Teil des Problems aus. Verludert war eigentlich der vom ehemals fortschrittlichen Freisinn mitgetragene «Bürgerblock», der die Bundespolizei und damit den Staat missbrauchte, um Linke und Fremde systematisch als StaatsfeindInnen zu stigmatisieren. Auch heute besteht immer wieder die Gefahr, dass sich der Freisinn in einen von der SVP dominierten Bürgerblock einbinden lässt und damit das liberale Erbe von 1848 verrät.
Denn was Frisch vor 25 Jahren dem «Bürgerblock» vorwarf, zählt heute zum Programm der SVP. Wer ihrem politischen Credo nicht zustimmt, wird als unschweizerisch verunglimpft. Diese autoritäre Ausgrenzung eines Teils der Bevölkerung und die permanente Verketzerung der Fremden und des Auslands entsprechen weitgehend jener Geisteshaltung, die vor 25 Jahren die Bundespolizei verkörperte – und die Max Frisch veranlasst hatte, vom verluderten Staat zu sprechen.
Hans Ulrich Jost ist emeritierter Geschichtsprofessor in Lausanne.