Demenz: «Noch bin ich gesund …»

Nr. 15 –

Demenz und assistierter Suizid ist ein Tabuthema. Umso notwendiger ist es, öffentlich darüber nachzudenken, findet Marianne Pletscher. Die Dokumentarfilmerin hat einen Brief geschrieben, in dem sich ihr gesundes Ich an ihr (sollte das je der Fall sein) demenzkrankes Ich wendet.

Viele ÄrztInnen und Betreuungspersonen lehnen den begleiteten Freitod bei Demenz ab. Das kann ich verstehen. Ihre Aufgabe ist es, demenzkranken Menschen in jedem Stadium der Krankheit ein so gutes Leben wie nur möglich anzubieten. Aus gesellschaftlicher Sicht ist dieses Anliegen zentral und darf niemals infrage gestellt werden. Es ändert nichts an meiner persönlichen Einstellung: Ich befürworte den begleiteten Freitod bei Demenz. Zu dieser Einstellung haben mich meine beruflichen Erfahrungen, schmerzhafte persönliche Erlebnisse sowie meine ganz eigene Lebenslage gebracht.

Als Dokumentarfilmerin beschäftige ich mich seit vielen Jahren mit dem Thema Demenz. Dank meiner Recherchen weiss ich um die generell hohen Zustimmungsraten zum assistierten Suizid 1: zwischen sechzig und achtzig Prozent je nach Umfrage, in Deutschland wie in der Schweiz. Seit ich an diesem Thema arbeite, sprechen mich fast täglich FreundInnen und Bekannte darauf an. «Könnte ich als Demenzkranker Hilfe beim Sterben bekommen – und wenn ja, wie und wann?», lautet ihre häufigste Frage.

Auch betroffene Angehörige haben mir immer wieder Geschichten erzählt, die mir aufzeigten, dass viele DemenzpatientInnen zu Beginn ihrer Erkrankung an Suizid dachten. Ob sie später davon absahen, weil sie nach dem ersten Schock über die Diagnose wieder Mut fassten, oder ob die Krankheit schon zu weit fortgeschritten war, ist schwer zu eruieren. Mit Sicherheit kann ich sagen, dass für viele Angehörige eine offene Diskussion sehr wichtig ist.

Viele von ihnen haben schmerzhafte und lang andauernde Erfahrungen bei der Begleitung eines Demenzkranken gemacht und nehmen sich fest vor, mit der Sterbehilfeorganisation Exit2 aus dem Leben zu scheiden, falls sie selbst demenzkrank würden. Auch Menschen aus dem Umfeld der professionellen Demenzbetreuung vertrauten mir an, dass sie Exit beigetreten sind. Sie baten mich, dies nicht öffentlich zu machen – aus Angst, ihre Haltung könnte negative berufliche Folgen für sie haben. Das Thema ist sehr emotional, und ich habe aus Fachkreisen oftmals heftige Ablehnung erfahren.

«Ausgerechnet du», heisst es etwa, «du setzt dich mit deinen Filmen doch stets für die Lebensqualität der Betroffenen ein!» Für mich ist dies kein Widerspruch: Als Dokumentarfilmerin und als Mensch habe ich mich immer dafür eingesetzt, dass demenzkranke Menschen mit ihren Anliegen ernst genommen werden. Und zwar, wenn es ums Leben und wenn es ums Sterben geht.

Das Recht, selber zu entscheiden

Sprechen wir als Erstes von den Fakten: Ja, in der Schweiz ist der begleitete Suizid bei Demenz möglich. Allerdings ist er sehr schwierig durchzuführen, da die kranke Person noch urteilsfähig3 sein muss. Dies beurteilt im Normalfall der betreuende Arzt. Ein zweites Gutachten durch eine Fachärztin oder einen Facharzt, sei es ein Psychiater, eine Neurologin oder ein Geriater, ist nötig.

Urteilsfähig sein heisst, dass die Krankheit noch nicht zu weit fortgeschritten sein darf. Gleich nach der Diagnosestellung ist ein Mensch in der Regel in der Lage, seine Situation noch selbstbestimmt zu beurteilen. Wann genau er dies nicht mehr sein wird, ist schwer zu bemessen, jede Demenzerkrankung verläuft anders. Es ist wichtig, dass man sich, wenn man diesen Weg gehen will, kurz nach der Diagnose mit einer Sterbehilfeorganisation in Verbindung setzt – selbst wenn es noch lange dauern kann, bis man nicht mehr urteilsfähig ist.

Wenige an Demenz Erkrankte entscheiden sich letztlich für den Freitod, wie die Erfahrungen der behandelnden ÄrztInnen und die Zahlen von Exit zeigen. Das heisst nicht, dass eine offene Diskussion darüber nicht sinnvoll ist. Demenzkranke Menschen, die sich den von einer Sterbehilfeorganisation begleiteten Suizid vorstellen können, müssen das Pro und Kontra in Ruhe überlegen dürfen, ohne dass sie stigmatisiert werden. Jeder Mensch hat das Recht, selbst zu entscheiden, was für ihn ein Sterben in Würde bedeutet. Jeder Mensch hat das Recht zu erfahren, zu welchem Zeitpunkt ein solcher Entscheid getroffen werden muss. Jeder Mensch hat das Recht auf eine unvoreingenommene Beratung, die ihm aufzeigt, was der allfällige Entscheid für seine Angehörigen und FreundInnen bedeutet, aber auch aus juristischer, psychologischer und theologischer Sicht. Jeder Mensch muss wissen, was es bedeuten kann, bis hin zur letzten Phase der Demenzerkrankung zu leben.

Exit bietet ihren Mitgliedern diese Beratung an, ohne den geringsten Zwang. Ich wünsche mir, dass in Zukunft auch HausärztInnen und anderes Betreuungspersonal ohne Vorurteile und offenen Herzens mit ihren PatientInnen darüber reden können. Doch das Thema ist zutiefst weltanschaulich geprägt, und längst nicht alle Fachleute und schon gar nicht jeder Pfarrer können über den eigenen Schatten springen. Auch das habe ich in den vielen Gesprächen erfahren.

Der Theologe Hans Küng hat sich sein halbes Leben lang mit verschiedensten Formen des Sterbens und der Sterbehilfe auseinandergesetzt. In seinem Buch «Glücklich Sterben?» (2014) spricht er die Schwierigkeit an, den Zeitpunkt für ein selbstverantwortetes Sterben nicht zu verpassen. Er hatte aus nächster Nähe miterleben müssen, wie sein Freund Walter Jens jahrelang demenzkrank war, und litt sehr darunter, ihn so lange in einem Zustand erleben zu müssen, in dem dieser ehemals brillante Mensch weder wusste, wer er war, noch ihn, seinen guten Freund, erkannte. Er wusste genau um Jens’ Haltung, denn er hatte mit dem Schriftsteller in den neunziger Jahren Vorlesungen zum Thema «menschenwürdiges Sterben» gehalten.

Walter Jens hatte oft davon gesprochen, den Moment für seinen Freitod nicht verpassen zu wollen. In Hans Küngs Augen hat er ihn verpasst. Küng hilft vielen gläubigen ChristInnen, wenn er davon spricht, dass man aus Gottvertrauen heraus freiwillig sterben kann, vor allem, wenn man an einer persönlichkeitsverändernden Krankheit leidet. Er betont aber immer wieder, dass jede und jeder frei sei, anders zu denken. Aus diesem Grund ist er Exit beigetreten. Aus dem Recht auf Leben folge keineswegs die Pflicht zum Leben, schreibt Küng. Man könne nicht nur aus der Wahrung der menschlichen Autonomie für ein selbstbestimmtes Sterben eintreten, sondern auch aus dem tiefen Vertrauen auf Gottes Wirklichkeit. Als Küng dies äusserte, litt er bereits an Parkinson.

Aus freiem Willen

Ich habe beschlossen, einen Brief zu schreiben, in dem sich mein gesundes Ich an mein demenzkrankes Ich wendet; demenzkrank im Frühstadium (sollte das je der Fall sein). Vorausschicken muss ich, dass ich Exit beigetreten bin, nachdem mein Partner aus dem Leben geschieden war aus Angst vor einer Krankheit, die sich meinen späteren Recherchen zufolge als frontotemporale Demenz erwies. Ich stand der Sterbehilfeorganisation jedoch schon vorher positiv gegenüber. Sie war für mich eine Art Versicherung für den Fall aller anderen schweren Krankheiten. Denn ich würde kämpfen, wenn ich Krebs hätte. Ich würde versuchen, mit Palliativmedizin zu sterben, wenn ich die Gewissheit hätte, dass ich bis zum Schluss autonom denken kann. Ich würde davon ausgehen, dass ich in den letzten Tagen und Wochen meines Lebens noch Erlebnisse haben könnte, wichtige Beziehungen abschliessen möchte. Im Fall von Demenz glaube ich heute, dass ich den Freitod wählen würde. Im Brief an mich selbst will ich meine ganz persönlichen Gründe für diese Haltung aufzeigen und ihn deshalb meiner Patientenverfügung beilegen. Der Brief hat keine juristische Bedeutung, aber vielleicht kann er mir helfen, in Kenntnis aller Fakten und in Erinnerung an meine gesunden Gefühle einen frühen Entscheid zu treffen.

Gewiss, man kann sich selbstbestimmt demütig auf eine lange Phase der Demenz einlassen. So lautet ein oft vorgebrachtes Argument gegen den Machbarkeitswahn. Ich teile den machbarkeitskritischen Blick – bloss, die wenigsten bestimmen selbst, dass sie ihre Krankheit ergeben ertragen wollen. Ich wiederhole daher an dieser Stelle mein zentrales Anliegen: Was immer man entscheidet, es muss aus freiem Willen geschehen. Die Gesellschaft muss beides tolerieren. Niemals, bei keiner Krankheit darf es so weit kommen, dass Menschen sich zu einem assistierten Suizid gezwungen fühlen. Ebenso wenig darf man einem Menschen, der sich für den assistierten Suizid entscheidet, die Spiritualität absprechen – ihm Egoismus vorwerfen, die Unfähigkeit, sich hinzugeben, sowie die Geringschätzung von Werten wie Fürsorge und Solidarität. Alle diese Vorwürfe hätten sie immer wieder zu hören bekommen, erzählten mir Angehörige von Demenzkranken, die den Freitod wählten. Leidtragende dieses Denkens sind die Hinterbliebenen – aber auch die Demenzkranken selbst, deren Andenken von nachträglichen Vorwürfen getrübt wird.

«Liebe Marianne

Noch bin ich gesund, und ich hoffe, es noch lange zu bleiben. Du, liebe demenzkranke Marianne, wirst diesen Brief von einer Vertrauensperson also erst erhalten, wenn dir die Demenzdiagnose gestellt worden ist. Es sind zu dieser Stunde dieselben Vertrauenspersonen, die deine Patientenverfügung in den Händen halten. Je nachdem, wie alt du wirst, werden die Personen wechseln, ich hoffe aber, sie werden stets deine Lebensgeschichte und deine Überzeugungen gut kennen.

Man hat dir wahrscheinlich nach der Diagnose gesagt, du hättest noch einige gute Jahre vor dir. Man hat dich bestimmt weniger eingehend über die letzten Jahre der Krankheit informiert, in denen du nicht mehr wissen wirst, wer du bist, nichts mehr von dem tun kannst, was du am liebsten tust, filmen, lesen, schreiben, diskutieren, Geschichten erfinden. Falls man mit dir überhaupt über die späten Phasen einer Demenzerkrankung spricht – man will dir ja nicht wehtun –, wird man dir vermutlich sagen, all dies werde nicht mehr zählen. Du würdest im Moment leben und glücklich sein. Du würdest noch lange Musik hören können, Kunst betrachten, malen, Theater spielen, den Vögeln zuhören, Sinn und Freude empfinden. Du würdest vieles tun, wofür du vorher nie Zeit gehabt hättest.

Ich, dein gesundes Ich, möchte dich daran erinnern, dass ich mir nicht vorstellen kann, wie dich dies erfüllen wird. Dein Lebenselixier war das kritische Denken, verbunden mit sozialem Engagement. Ich kann mir nicht vorstellen, wie du Hilfe annehmen willst, wenn dein Lebenswille längst erloschen ist.

Kannst du zu den Menschen gehören, die ‹in der Demenz die beste Zeit ihres Lebens erleben›, wie ein Autor im Buch ‹demenz.› einen Demenzkranken zitiert4?

Darüber musst du jetzt entscheiden, denn du musst urteilsfähig sein, wenn du diesen Entscheid fällst. Das kann sehr bald sein, und darüber entscheidest nicht du, sondern deine behandelnde Ärztin. Ein zweiter Arzt muss dies zudem bestätigen. Deine Patientenverfügung bewahrt dich im besten Fall davor, später künstlich ernährt zu werden oder bei einer Lungenentzündung noch Antibiotika zu bekommen. Derlei wird aber erst zu einem sehr späten Zeitpunkt deiner Demenzerkrankung der Fall sein. Als Alleinstehende wirst du lange vorher in einem Heim leben müssen. Du wirst selten Besuch haben, da vermutlich etliche deiner engen Freundinnen und Freunde nicht mehr leben, besonders wenn du erst im hohen Alter demenzkrank wirst.

Deine beste Freundin hast du schon vor sieben Jahren in den Tod begleitet. Was die Familie angeht, sieht es nicht besser aus: Dein einziger Bruder ist fast vier Jahre älter als du. Wer weiss, ob er noch lebt, wenn du die Demenzdiagnose erhältst. Kinder hast du keine, dein einziges Kind starb viel zu früh, kaum war es auf der Welt. Auch deinen geliebten Lebenspartner verlorst du viel zu früh. Er ging, solange er noch klar denken konnte. Wäre er noch am Leben, würdest du vielleicht den Versicherungen deiner Ärzte glauben, dass du noch viele gute Jahre vor dir hast, liebevoll begleitet von Angehörigen. Du hast wohl ein sehr gutes soziales Netz, aber keinem dieser Menschen möchtest du zumuten, dich so eng begleiten zu müssen.

Du wirst nicht mehr die Marianne sein, die ihre Freunde lieben, keine aufmerksame Gesprächspartnerin und kritische Begleiterin von kreativen Projekten mehr. Du wirst nerven, weil du hundertmal dasselbe sagst, alles durcheinanderbringst, gar aggressiv wirst, ängstlich, apathisch, depressiv, unordentlich, kaum zu ertragen. Ich weiss, die Freundin, die meine Patientenverfügung bei sich hat, war beleidigt, als ich ihr von dem Brief erzählte. ‹Ich bin doch immer für dich da›, sagte sie. Sie ist zehn Jahre jünger, aber soll sie mit achtzig allenfalls eine so grosse Aufgabe übernehmen? Nein, je älter du wirst, desto wahrscheinlicher ist es, dass dich niemand mehr kennt. Und die besten Projekte für die Betreuung von Demenzkranken können dir keine Sicherheit geben, dass du liebevoll aufgehoben sein wirst. Ganz abgesehen davon, dass es nie genug solche Projekte geben wird in einer Zeit, in der die Menschen immer älter werden. Ich habe bei Recherchen erfahren, dass gerade in Akutspitälern und bei Hausärzten noch manches im Argen liegt. Auch in vielen Pflegeheimen herrschen Verhältnisse, die man nicht ansatzweise idyllisch nennen kann, und das in der reichen Schweiz.

Zum Zeitpunkt, da ich diesen Brief schreibe, denken alle meine engen Freunde und Freundinnen ähnlich wie ich. Wenn sie noch leben und gesund sein sollten, werden sie bestimmt mit dir deinen Abschied feiern. Rechtzeitig, mit einem schönen Ritual, vielleicht auf dem Bodensee. Ein allerletztes Mal den Wind spüren, an deinen geliebten Werner denken, an die vielen gemeinsamen Segeltörns, an das erfüllte Leben. Ja, du begegnest mit deinem Entscheid dem ‹nicht Veränderbaren durch einen Akt vorausgehender Machbarkeit›, wie es ein Gegner des assistierten Suizids nennt. Als Kranke darfst du den Tod als das letzte Abenteuer sehen, dem du bewusst begegnest. Was würde besser zu deinem Leben passen? Du hast es geliebt und mit so viel Neugier, so grosser Unternehmungslust gelebt. Nicht einmal die schlimmsten Schicksalsschläge haben dich dazu gebracht, dich nach dem Tod zu sehnen. Aus diesem Grund solltest du dir nicht einreden lassen, das Schicksal akzeptieren heisse wachsen. Du hast genug Trauriges erlebt, dass dich wachsen liess. Und du bist daran gewachsen.

Nach der Diagnose musst du schnell handeln. Suche eine medizinisch oder sozialpsychologisch gebildete Vertrauensperson. Sie soll dich darüber aufklären, wie lange du noch urteilsfähig sein wirst, und dich immer wieder darauf aufmerksam machen, wann dies nicht mehr der Fall sein könnte. Sie soll dir helfen, die administrativen Abläufe durchzustehen, die dein Entscheid mit sich bringt. Sie soll dir weiter helfen, wenn es dir an Krankheitseinsicht fehlt, anosognostisch nennt man das in der Fachsprache. Diese Person muss den Mut haben, dir vor Augen zu führen, wie es um dich steht, dich an diesen Brief erinnern.

Danach musst du schnellstens mit Exit Kontakt aufnehmen und dir eine gute Sterbebegleiterin suchen, die zusätzlich mithilft, dass du den Moment nicht verpasst. Sie wird dir ausserdem bei den Vorbereitungen helfen. Wenn du noch urteilsfähig bist, wirst du vielleicht fragen, weshalb du nicht jetzt entscheiden könnest, deinen Freitod auf einen späteren Zeitpunkt hin zu planen, wenn deine Lebensqualität viel schlechter sein wird. Das geht leider nicht. Es würde eine grössere Rechtsreform bedingen, die heute wohl keine Chancen hätte, nicht in der Schweiz und noch viel weniger in Deutschland. Ich als dein gesundes Ich habe auch das recherchiert. Keiner der von mir kontaktierten Strafrechtler oder Medizinjuristen wollte sich dazu äussern. Noch ein Tabu! Daran wird sich zu deinen Lebzeiten nichts ändern, selbst wenn du deinen Hundertsten in bester geistiger Verfassung feiern solltest.

Vielleicht hast du, mein liebes demenzkrankes Ich, bis du diesen Brief liest, schon vergessen, dass es nicht nur persönliche Gründe gibt, mit assistiertem Suizid deinem Schicksal als Demenzkranke zu entgehen. Es gibt auch gesellschaftliche Gründe. Was ist, wenn bis dahin noch mehr Ärzte und Pflegefachfrauen fehlen werden als heute, noch mehr Spitäler und Heime von Sparmassnahmen betroffen sind? Oder wird ganz im Gegenteil alles verwirklicht sein, was fortschrittliche Kreise fordern? Werden alle Ideen der schweizerischen Demenzstrategie umgesetzt sein?

Du musst ganz am Anfang deiner Demenz jemanden recherchieren lassen, ob sich in den Zeiten des Sparens tatsächlich etwas verbessert hat, denn selbst wirst du kaum mehr dazu fähig sein. Sehr wahrscheinlich ist es nicht. Am ehesten dürfte sich bei der Nachbarschaftshilfe etwas verändert haben, für die du dich ja immer eingesetzt hast. Aber wird es genug sein, um dich einzubeziehen in einen Kreis von Wohlgesinnten? Kaum. Aber das weisst du, du warst stets realistisch genug, um nicht an Wunder auf struktureller Ebene zu glauben.

Ich, dein gesundes Ich, weiss noch einen dritten Grund. Du hast dein Leben lang versucht, eine solidarische Person zu sein. Du möchtest, dass das viele Geld, das du als Kranke kosten würdest, als Kranke notabene, die gar nicht mehr leben möchte, einer jungen Person mit einer schweren Krankheit zugutekommt, die ihr Leben noch vor sich hat. Du hast bei Recherchen zu seltenen Krankheiten erlebt, wie schwer es diese Menschen haben. Bei seltenen Krankheiten fehlt sowohl das Geld als auch das Verständnis der Krankenversicherung. Du hast in deinem Testament Geld dafür vermerkt. Dein Entscheid, den Tod zu wählen, bevor du in die letzte Phase der Demenz eintrittst, könnte eine Art zusätzliches Testament sein.

Vielleicht ist es wahr, und die Seele bleibt im demenzkranken Menschen bis zu seinem letzten Atemzug. Deine Seele wird die Abkürzung gerne akzeptieren und glücklich dorthin gehen, wo verwandte Seelen auf sie warten. Falls es einen Gott gibt, ist er bestimmt so barmherzig, wie Hans Küng ihn beschreibt – er kennt sich da besser aus als ich. Und falls nach dem Tod alles zu Ende ist, so ist es gut, wenn es schon ein bisschen früher vorbei ist. Du gehst im Bewusstsein, dass es mindestens siebzig Jahre lang gut war. Du hast ein reiches, selbstbestimmtes und abwechslungsreiches Leben gelebt und die grosse Liebe gekannt. Das ist genug, um glücklich zu sterben, bevor du dich nicht mehr erinnerst. Ich glaube, dass es so etwas gibt wie Lebenssattheit. Ich fühle sie heute schon manchmal, streiflichtartig, ohne deswegen den Genuss am Leben zu verlieren. Erinnere dich an die guten Momente und lass los, auch wenn es dir früh erscheint.

Wenn du beim Lesen dieses Briefes entscheidest, dass du deinem gesunden Ich nicht mehr glauben kannst, und bleiben willst, wenn du die viel beschworene Transzendenz, in der sich Demenzkranke angeblich befinden sollen, zu spüren glaubst, wenn du die Hilflosigkeit als Teil des Lebens akzeptieren willst, dann vergiss alles, was ich geschrieben habe. Eines aber vergiss nicht: Dein gesundes Ich war keine egoistische Person, und du wirst auch nicht durch gesellschaftlichen Druck zu diesem Entscheid getrieben. Dein gesundes Ich war jemand, der sich in Filmen und Büchern intensiv mit dieser Krankheit und ihren Auswirkungen auseinandergesetzt und versucht hat, Lebensqualität für Demenzkranke zu schaffen, die, anders als du, leben wollten bis zum Ende, ohne Freitod. Es ist dein intimer Entscheid, lass dir von niemandem dreinreden. Aber lass dich, ganz zum Schluss, daran erinnern, dass du den Tod nie als Feind empfunden hast, gerade weil du mehrere Filme über das Sterben gemacht hast.»


Ich schrieb diesen Text auch für die vielen Freundinnen und Freunde, für all die Bekannten, die mich darum baten, dass in meinen Beiträgen auch ihre Sicht der Dinge vorkomme. Ich schrieb ihn im Andenken an meinen Gefährten Werner, der spürte, dass es Zeit war für ihn zu gehen, obwohl er nicht wusste, dass er an frontotemporaler Demenz litt, die schlimmste aller demenziellen Erkrankungen – er glaubte, ‹nur› an Parkinson zu leiden. Sein einsamer Suizid hat mich, seine Familie und seine FreundInnen erschüttert. Wir konnten nicht Abschied nehmen. Wenigstens das wäre ihm und uns bei einem assistierten Suizid erspart geblieben. Er hat mir keine Chance gegeben, ihm beizustehen, sei es auf dem Weg zum freiwilligen Tod oder auf dem Weg, die Demenz bis zum Schluss zu leben. Ich wäre für beides bereit gewesen.

1) Diese Überlegungen gelten vor allem für die Schweiz. Auch Belgien, Holland und die Niederlande anerkennen den Freitod bei Demenz, teilweise in anderer Form. In all diesen Ländern wurden bei Demenz auch in den letzten Jahren viel weniger lebensverlängernde Massnahmen ergriffen. In Deutschland hat der Bundestag im letzten Herbst deutlich beschlossen, «geschäftsmässig» betriebene Suizidbeihilfe unter Strafe zu stellen.

2) Exit ist die grösste Schweizer Suizidhilfeorganisation, mit rund 100 000 Vereinsmitgliedern. 2015 ist Exit 728 Mitgliedern beim selbstbestimmten Sterben beigestanden, 11 davon waren demenzkrank. Seit 2013 liessen sich pro Jahr im Schnitt rund zehn Mitglieder mit beginnender Demenz in den Freitod begleiten, vorher waren es weniger.

3) Die Urteilsfähigkeit setzt sich laut schweizerischem Recht aus zwei Elementen zusammen: der Fähigkeit zu verstandesmässiger Einsicht in die Tragweite der eigenen Handlungen und der Fähigkeit, sich gemäss dieser Einsicht zu verhalten. Nach Art. 16 ZGB gilt die Urteilsfähigkeit als Normalzustand. Sie kann mit Bezug auf gewisse Situationen oder zu bestimmten Zeiten fehlen. Das Vorliegen einer dementen Störung ist immer mit der konkret zu beurteilenden Handlung in Beziehung zu setzen. Bei Personen mit einer Demenzdiagnose wird vom rezeptausstellenden Arzt für das vom Kranken selbst einzunehmende Natrium-Pentobarbital überprüft, ob der Entscheid dauerhaft, wohlerwogen und die Gesamtsituation bilanzierend ist; er muss von einem zweiten Arzt bestätigt werden.

4) Das Buch «demenz. Fakten Geschichten Perspektiven» ist kürzlich im Zürcher Verlag rüffer & rub erschienen.

Literatur:
Hans Küng: «Glücklich sterben?». Piper Verlag. München 2014.
Frank. Th. Petermann: «Demenz-Erkrankungen und Selbstbestimmung – ein Widerspruch in sich?». HILL. 2007. II N. 1
Gian Domenico Borasio: «Selbstbestimmt Sterben». C. H. Beck. München 2014.

Zum Text und zur Autorin

Marianne Pletscher (69), «Grande Dame des Schweizer Dokumentarfilms» («Tages-Anzeiger») und ehemalige Reporterin und Redaktorin beim Schweizer Fernsehen, hat bislang über fünfzig Dokumentarfilme realisiert und zahlreiche Preise gewonnen.

In den letzten Jahren hat sich Pletscher intensiv mit Sterben und Demenz beschäftigt: so etwa in «Besser Sterben» (2004); «Glück im Vergessen?» (2010); «Dein Schmerz ist auch mein Schmerz» (2011); «Behütet ins gemeinsame Boot» (2012) oder «Sinn und Hoffnung finden» (2013). Gemeinsam mit Irene Bopp hat sie das Buch «Da und doch so fern» herausgegeben (2014).

Den hier veröffentlichten Text hat Pletscher ursprünglich für ein weiteres Buchprojekt verfasst, das sie mit Bopp konzipiert hatte. Aufgrund zu grosser Meinungsverschiedenheiten zum Thema Demenz und Exit hat Pletscher all ihre Texte zurückgezogen. Einige von ihr betreute Autorinnen zogen ihre Texte ebenfalls zurück.

Zu den Bildern

Seit 2004 arbeitet die Künstlerin Regine von Felten mit ihrer an Demenz erkrankten Grossmutter am Projekt «Pilze haben keine Blätter». Die Enkelin fotografiert ihre Grossmutter in unregelmässigen Abständen in ihrer Umgebung.

Diese Fotos bearbeitet die Grossmutter mit Kreide, Filzstift und Schere während Gesprächen mit ihrer Enkelin. Die Zusammenarbeit, so Regine von Felten, habe nicht den Anspruch, ein objektives Porträt zu vermitteln, «mich beeindruckt, wie sie die eigenen Porträts auf visueller Ebene ergänzt».

Demenz und Menschenwürde

In der Schweiz leiden bereits über 100 000 Menschen an einer demenziellen Erkrankung. Wie geht eine Gesellschaft mit Menschen um, die einen grossen Teil ihrer Selbstbestimmung verlieren? Was heisst das für Angehörige? Wie ist die Situation in den Pflegeheimen? Und: Wie dringend braucht es eine öffentliche Diskussion über den begleiteten Freitod von Demenzkranken? In einer kleinen Serie beschäftigen sich verschiedene Autorinnen mit Fragen rund um diese Themen.