Durch den Monat mit Kafi Freitag (Teil 4): Liebe Frau Freitag, kommen auch Leute zu Ihnen, die wenig verdienen?
Bloggerin und Coach Kafi Freitag glaubt, dass man die Welt zunächst im Kleinen verändern muss. Auf ein bedingungsloses Grundeinkommen hat sie grosse Lust, auch wenn ihr dadurch wohl einige KlientInnen verloren gingen.
WOZ: Kafi Freitag, woran glauben Sie?
Kafi Freitag: An die Quantenphysik.
Ist das eine Weltanschauung?
Für mich schon. Die Quantenphysik konnte nachweisen, dass bestimmte Prozesse anders ablaufen, je nachdem, ob jemand hinschaut oder nicht. Das ist total verrückt, bedeutet aber schlussendlich, dass wir mit unserem Denken die Welt beeinflussen können.
Sie glauben ans positive Denken?
Wenn wir uns auf das Gute konzentrieren, wird die kleine Welt direkt um uns herum besser. Darum finde ich es wichtig, dass wir Verantwortung für uns selber übernehmen. Ich stelle mir die Gesellschaft wie ein Uhrwerk mit einem grossen Rad in der Mitte und ganz vielen kleinen Rädchen am Rand vor. Um das grosse zu bewegen, muss man an all den kleinen Rädchen drehen. Die Veränderung des Systems beginnt immer im Kleinen.
Jeder soll also zuerst für sich selbst schauen. Und doch halten Sie demnächst in einer reformierten Kirche eine Predigt zum Thema Nächstenliebe. Wie geht das zusammen?
Meine Auffassung von Nächstenliebe ist etwas anders als die im Christentum. Für mich beginnt Nächstenliebe bei jedem Einzelnen. Nur wer sich selber gern hat und akzeptiert, kann andere aufrichtig lieben und akzeptieren. Erst wenn ich mit mir im Reinen bin, kann ich auch für andere Gutes tun. Dann muss ich mich auch nicht ständig mit anderen vergleichen und bin befreiter von Missgunst und Neid.
Das ist stark aus der Perspektive einer privilegierten Schweizerin gedacht. Statt Wohltätigkeit und positives Denken bräuchten wir doch einschneidende politische Veränderungen …
Natürlich ist mir bewusst, dass ein Flüchtling, der in Idomeni am Zaun steht, mehr braucht als positives Denken. Aber wenn wir anfangen, mit unseren Nächsten respektvoll umzugehen, dann macht es unsere Welt insgesamt menschlicher. Und Menschlichkeit brauchen wir überall. Hier und in Idomeni.
Was ist der Unterschied zwischen Predigen und Coachen?
Im Prinzip ist Predigen etwas, was von oben auf die Leute prasselt. Wenn ich selber auf der Kanzel stehe, versuche ich das anders zu machen. Coachen wie predigen kann man auf Augenhöhe.
Erwarten die Leute, die zu Ihnen kommen, nicht gerade, dass Sie Einfluss auf sie nehmen?
Beim Coaching nehme ich keinen Einfluss. Ich begleite Menschen durch einen Prozess, wobei ich ein möglichst partnerschaftliches Verhältnis zu ihnen suche. Das ist auch in meiner Onlinekolumne so. Ich gebe dort viel von mir preis. Anders als in vielen Frage-Antwort-Formaten, in denen sich ein «Experte» oder eine «Expertin» hinter einer theoretischen Antwort versteckt.
In Ihrer Kolumne betonen Sie oft die persönliche Autonomie. Etwa in der Frage, ob man als Mutter zu Hause bleiben soll oder nicht. Viele Frauen haben diese Wahl aber nicht, weil sie aus finanziellen Gründen arbeiten müssen.
Das ist klar. Ich bin immer dafür, dass man die Strukturen verbessert. Ich hatte einfach den Luxus, mich frei entscheiden zu können.
Kommen überhaupt Leute zu Ihnen ins Coaching, die wenig verdienen?
Wenn eine Frau in Zürich zum Coiffeur geht, lässt sie dafür auch schnell bis zu 200 Franken liegen. Ich koste also gleich viel wie ein Haarschnitt. Mit Studenten arbeite ich zu einem günstigeren Tarif. Grundsätzlich arbeite ich öfter mit Normalverdienern als mit Besserverdienern.
Ist Coaching nicht ein typisches Beispiel unserer Kultur der Selbstoptimierung?
Es gibt sicher Coaches, denen es um Optimierung und Lifestyle geht. Das interessiert mich aber nicht. Wenn jemand zu mir kommt, um über den Verlust eines geliebten Menschen hinwegzukommen, ist das keine Optimierung.
Was halten Sie eigentlich vom bedingungslosen Grundeinkommen?
Ich habe unglaubliche Lust darauf! Ich finde die Idee einer Gesellschaft, in der wir alle das machen können, was uns gefällt, visionär. Es ist doch furchtbar, dass die Jungen heute schon ihr Studium im Hinblick auf einen gut bezahlten Job wählen. Wahrscheinlich entscheiden sich viele gegen eine Arbeit im sozialen Bereich, weil man viel zu wenig verdient. Wenn alle das tun, was ihnen entspricht, wird die Wirtschaft enorm profitieren.
Gäbe es mehr Coaching, wenn wir das Grundeinkommen hätten?
Es bräuchte eher weniger Coaching! Die Menschen wären hoffentlich zufriedener. Ganz ehrlich: Wenn jemand hier durch die Tür kommt, ist mein Ziel immer, diese Person so schnell wie möglich wieder «loszuwerden». Ziel meiner Arbeit ist, sie überflüssig zu machen.
Also ist die beste aller Welten eine ohne Coaching?
So gesehen ja. Aber Coaching ist immer Selbstreflexion. Und die kann auch in der besten aller Welten nicht schaden.
Am 29. Mai 2016 hält Kafi Freitag (40) in der reformierten Kirche Wettingen eine Predigt zum Thema Nächstenliebe. Weil sie das soziale Engagement der Kirche schätzt, verzichtet sie auf ihre für ähnliche Anlässe übliche Gage von 2500 Franken.