Nach dem Brexit: Für Vereinigte Staaten von Europa

Nr. 26 –

  • Anti-Brexit-AktivistInnen am «Big In» am 19. Juni im Londoner Hyde Park. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Junge BritInnen am Fährhafen von Liverpool. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Pro-Brexit-Bus an einer «Vote Leave»-Demonstration am 15. Juni in London. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • An einer Nostalgie-Autoshow in Wadebridge. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif
  • Zwei Brexit-Anhängerinnen in Clacton-on-Sea, Essex. Foto: Adam Ferguson / «The New York Times» / Redux / laif

Man kann Weltoffenheit nicht in die Menschen reinprügeln. Man kann niemanden zwingen, die EU zu lieben. Man muss aber fragen, warum das Gebilde so verhasst ist. Denn nicht der Brexit ist bedrohlich, sondern die Dynamik, die er auslöst. Die NeonationalistInnen Europas triumphieren. Der Rest redet sich selber Mut zu. Die EU-RepräsentantInnen scheinen keinen Plan zu haben, wie sie all jene zurückgewinnen können, die sich von der EU bedroht fühlen.

Es waren nicht nur blindwütige FremdenfeindInnen, die für den Brexit gestimmt haben. Es waren auch viele, die den sozialen Abstieg fürchten oder schon erleben, wie der britische Politologieprofessor Matthew Goodwin analysiert. Er nimmt als Beispiel die Hafenstadt Boston im englischen Nordosten, in der überdurchschnittlich viele osteuropäische MigrantInnen leben. Am vergangenen Donnerstag haben 76,5 Prozent der Bostoner Abstimmenden für den Brexit votiert. Das deutlichste Verdikt landesweit. Das mittlere Jahreseinkommen liegt bei bescheidenen 17 000 Pfund (aktuell umgerechnet 22 000 Franken). JedeR dritte Einheimische hat keine Ausbildung. Diese Leute entkommen der Armut nicht so schnell.

Als Gegenpol nimmt Goodwin den Londoner Stadtbezirk Lambeth. Dort haben 78 Prozent gegen den Brexit gestimmt. Das mittlere Einkommen ist hier um 10 000 Pfund höher als in Boston. In Lambeth leben vor allem top ausgebildete junge Leute. Für sie ist die EU ein freier Raum, der Entfaltung verspricht. Für Goodwin ist klar: Die Ungleichheit ist hauptsächlich für den Brexit verantwortlich, nicht die Fremdenfeindlichkeit.

Sicher, rechte Propaganda gedeiht prächtig in einer Gesellschaft, die von Abstiegsängsten getrieben ist. Das ist eine altbekannte Tatsache. Diese Ängste lösen sich nicht auf, indem man den Leuten erzählt, die EU sei ein wichtiges Friedensprojekt. Das stimmt zwar, aber wenn die Abgehängten es nicht mehr glauben, geht die gute Idee unter.

Das Gebilde Europäische Union hat einen schmerzhaften Konstruktionsfehler. Es ist ein Unding: nicht Staatenbund – nicht Bundesstaat. Deswegen ist es für die Leute kaum fassbar.

Die JuristInnen haben dem Problem einen Namen gegeben: «sui generis». Wenn in der Wissenschaft etwas einen Namen hat, scheint es gelöst. Dem ist aber nicht so. «Sui generis» bedeutet «seine eigene Art», gerne auch übersetzt als «einzigartig in seinen Eigenschaften». Eine hübsche Umschreibung eines kapitalen Mangels: Das Gebilde EU gibt vor, demokratisch zu sein, setzt sich aber über fundamentale demokratische Grundsätze hinweg. Es gibt keine Gewaltenteilung. Es gelten nicht für alle dieselben Rechte. Und es gibt keinen konkreten Souverän.

Wenn die EU nicht hässlich zerbersten will, braucht es eine andere EU. Sie muss demokratisch organisiert sein, mit einer klar definierten Legislative und einer Exekutive, die man wählen und abwählen kann. Eine EU, in der alle dieselben sozialen Rechte geniessen und in der es ein Steuersystem gibt. Es braucht die Vereinigten Staaten von Europa.

Das ist keine Utopie, sondern notwendig, wenn das Friedensprojekt EU nicht zum Hassprojekt verkommen soll.

Wenn die Linke das heutige EU-Gebilde verteidigt, tut sie es in der Hoffnung, damit die Rechte zu bändigen. Aber so wie die Linke das tut, bereitet sie der Rechten das Terrain. Man kann die FremdenfeindInnen zwar beherzt bekämpfen, der Konstruktionsfehler verschwindet deswegen aber nicht.

Die Rechte hingegen bezieht gerade aus diesem Konstruktionsfehler gigantische Kraft. Denn es geht nicht nur um ein Demokratiedefizit. Es geht auch darum, dass das heutige Gebilde einen bösartigen Kern besitzt. Es führt dazu, dass die Arbeitsuchenden aller EU-Länder aufeinandergehetzt werden können. Und es lässt die einzelnen Sozialsysteme gegeneinander antreten. Ein irres System, das Neid, Missgunst und Fremdenhass förmlich züchtet.

Es geht anders. Und es ist simpel. Wenn in allen EU-Ländern das Prinzip der Gleichheit vor dem Recht gälte, würden «wir als europäische Bürger nicht andauernd ob unserer (nationalen) Rechte gegeneinander ausgespielt, während die Unternehmen fröhliches Steuer- und Lohnhopping machen können», wie die Berliner Politologin Ulrike Guérot im «Freitag» schreibt. Es gäbe eine europäische Arbeitslosenversicherung, eine europäische Krankenversicherung, ein europäisches Arbeitsrecht.

Das System wäre wohl weit davon entfernt, perfekt zu sein. Die Demokratie sei die schlechteste aller Regierungsformen, abgesehen von allen anderen, hat Winston Churchill einmal gesagt. Das stimmt immer noch. Und vorläufig ist nichts Besseres in Sicht. Es lohnt sich, dafür zu kämpfen. Und es wäre schön, dahin zu gelangen, ohne Europa vorher kaputt zu machen.