Nordengland: «Es geht nicht um Rassismus, sondern um Klassenkampf»

Nr. 26 –

In manchen Labour-Hochburgen will eine Mehrheit die EU verlassen. Sie hofft auf den linken Parteichef Jeremy Corbyn – der unter starken Druck geraten ist.

Wer nach Gründen sucht, weshalb viele Leute in Nordengland am vergangenen Donnerstag «Leave» gestimmt haben, fängt am besten hier an: in der trostlosen Landschaft rund um das stillgelegte Bergwerk Hatfield, einige Kilometer nordöstlich von Doncaster. Noch stehen die Fördertürme neben der grossen Kohlehalde, aber die besten Zeiten von Hatfield sind endgültig vorbei. Die Schliessung der Zeche im vergangenen Juni markierte gleichzeitig das Ende der langen und stolzen Geschichte des Bergbaus in South Yorkshire.

In Doncaster und den umliegenden Dörfern war das Votum für den Brexit mit 69 Prozent der Stimmen überwältigend. Die Ukip (Partei für die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs) hat hier in den vergangenen Jahren viele AnhängerInnen gewonnen, aber die Arbeiterstadt und ihr Umland wählt noch immer mehrheitlich Labour. Die drei Parlamentssitze gehen immer an die Partei, und im 55-köpfigen Gemeinderat ist sie mit 41 Abgeordneten vertreten. Dass die Labour-WählerInnen im EU-Referendum so deutlich gegen die Empfehlung ihrer Partei gestimmt haben – wie in vielen traditionellen Arbeiterquartieren im Norden –, überraschte in Doncaster jedoch kaum jemanden.

Dem Establishment den Finger zeigen

Als Sheena Moore in den siebziger Jahren hier aufwuchs, bildete die Schwerindustrie das Rückgrat der Wirtschaft Nordenglands – ganze Dörfer lebten vom Bergbau, von der Stahlindustrie und dem Eisenbahnbau. Die Sozialarbeiterin kämpfte für den Erhalt dieser Wirtschaftszweige. Als die Bergarbeiter, darunter ihr Vater, ihr Mann und ihr Bruder, 1984 zusammen mit Zehntausenden Bergarbeitern im ganzen Land in den Streik traten, um Margaret Thatchers Zerschlagung der britischen Industrie zu verhindern, war Moore zuvorderst dabei. Sie erzählt von wilden Prügeleien mit der Polizei und von der Solidarität in der Community.

Der Streik der Bergarbeiter endete mit der grössten Niederlage der ArbeiterInnenschaft im Land, die Deindustrialisierung schritt weiter voran. In den späten achtziger und in den neunziger Jahren schlossen in South Yorkshire die meisten Bergwerke, eine Fabrik nach der anderen machte dicht.

«Jetzt ist alles weg», sagt Moore. «Die einzigen Arbeitsplätze, die wir hier haben, sind unsichere Teilzeitjobs. Junge Leute wagen es nicht, von einer Zukunft zu träumen.» Die Arbeitslosigkeit in Doncaster beträgt über sieben Prozent, die Einkommen in South Yorkshire zählen zu den tiefsten im Land, viele BewohnerInnen sind auf staatliche Sozialleistungen angewiesen. «Die Leute hier kommen nicht aus der Armut heraus», sagt Moore.

Das, sagt sie, sei der wichtigste Grund, weshalb hier eine grosse Mehrheit für den Ausstieg aus der EU gestimmt habe. «Die Leute haben das Gefühl, dass ihnen niemand zuhört, und sie haben recht. Die Arbeiterklasse in dieser Region nutzte ihre Stimme, um dem Establishment den Finger zu zeigen.» Warnungen über einen wirtschaftlichen Einbruch machen keinen Eindruck: «Stellenabbau? Wir haben seit vierzig Jahren Stellenabbau!»

Nicht nur progressive Gründe

Im «Masons Arms», dem ältesten Pub in Doncaster, läuft am Sonntagnachmittag Fussball, aber die Gäste diskutieren über Politik. Die vier Männer, darunter ein Eisenbahnarbeiter, ein Lokführer und ein Lehrer, sind zufrieden mit dem Resultat: Alle wollen raus aus der EU. Unter ihnen ist Tosh McDonald, Labour-Mitglied und Vorsitzender der Lokführergewerkschaft Aslef. «Die EU vertritt die Interessen der grossen Konzerne», sagt der 55-Jährige mit langen, blondierten Haaren. Deshalb habe er seinen Gewerkschaftsmitgliedern empfohlen, «Leave» zu stimmen. Er verweist auf das vierte Eisenbahnpaket der EU, mit dem der Wettbewerb im Sektor gestärkt werden solle, was eine Wiederverstaatlichung der Eisenbahn, die Aslef anstrebt, verunmöglichen würde.

Allerdings räumt McDonald ein, dass die linken «Leave»-Argumente während der Referendumsdebatte viel zu wenig zur Sprache kamen und dass viele BritInnen in Nordengland nicht unbedingt aus progressiven Gründen für den Ausstieg stimmten: «Wir müssen ehrlich sein: Es war eine sehr rechtslastige Kampagne für den Ausstieg.» Wie in anderen EU-kritischen Gebieten spielte die Einwanderung auch hier eine wichtige Rolle.

Sheena Moore macht dafür neben den rechten Brexit-Anführern Nigel Farage und Boris Johnson auch die Boulevardpresse verantwortlich, die seit Jahren ImmigrantInnen die für die wirtschaftliche Misere der Region Verantwortung zuschiebt. Dass nun die Mainstreampresse alle Brexit-BefürworterInnen über einen Kamm schert und sie der Fremdenfeindlichkeit bezichtigt, findet sie widerlich. «Es geht nicht um Rassismus, sondern um Klassenkampf.»

Eine Möglichkeit, Corbyn loszuwerden

Hätte Labour-Chef Jeremy Corbyn, der für seine EU-kritische Haltung bekannt ist, sich für einen Ausstieg starkgemacht, wäre die Debatte ganz anders verlaufen, sagt McDonald. Er hätte aus linker Perspektive für den Ausstieg plädieren können – und in Städten wie Doncaster hätte er damit den Bezug zur Basis wiederfinden können. Zwar stimmen die meisten Leute hier nach wie vor für Labour, aber das liegt vor allem am Mangel an Alternativen.

In Westminster hingegen wird Corbyn genau das Gegenteil vorgeworfen: Er habe sich nicht enthusiastisch genug für den Verbleib eingesetzt. Die Mehrheit der Labour-Fraktion macht Corbyn für das Abstimmungsresultat mitverantwortlich. So liess ein Putschversuch nicht lange auf sich warten: Die Abgeordnete Margaret Hodge stellte einen Misstrauensantrag gegen ihren Parteichef, weil es aufgrund des Abstimmungsresultats klar sei, dass Corbyn die Partei nicht führen könne. Freilich war ausgerechnet Hodges Wahlkreis Barking eines der wenigen Londoner Quartiere, die mit grosser Mehrheit für den Ausstieg stimmten.

«Wenn das Referendum zugunsten der ‹Remain›-Kampagne ausgefallen wäre, hätten die Corbyn-Gegner genau das Gleiche getan», meint Kelvin Hopkins, einer der wenigen Labour-Abgeordneten, die aus der EU austreten wollen. «Sie suchen nach einer Möglichkeit, Corbyn loszuwerden.» Innerhalb von drei Tagen traten über zwanzig Mitglieder des Schattenkabinetts zurück, in der Hoffnung, den Parteichef so zur Abdankung zu zwingen. Doch Corbyn ersetzte die Zurückgetretenen zügig, und zwar mehrheitlich mit Abgeordneten, die erst seit kurzem im Parlament sitzen und dort zu seinen engsten MitstreiterInnen zählen.

Die Labour-Basis war schnell zur Stelle, um Corbyn den Rücken zu stärken: Kurzerhand wurde eine Demonstration vor dem Parlamentsgebäude angekündigt. Am Montagabend trat der Parteichef mit einer Handvoll Mitglieder seines Schattenkabinetts vor mehreren Tausend enthusiastischen AnhängerInnen auf, die skandierten: «Corbyn in, Tories out!» Derart gestärkt, sagte Corbyn nach dem Misstrauensvotum vom Dienstag, bei dem eine grosse Mehrheit der Labour-Abgeordneten gegen ihn stimmte, er lehne einen Rücktritt ab, weil er die Basis, die ihn gewählt hat, nicht verraten wolle.

In Doncaster seien die Leute vorsichtig optimistisch gegenüber Corbyn, sagt McDonald, der Labour-Gewerkschafter. Doch die Manöver des rechten Flügels der Partei gefährden die Attraktivität, die Labour mit dem neuen Chef gewonnen hat. «Nach dem ‹Leave›-Votum haben wir die Möglichkeit, eine sozialistische Politik aufzubauen – die Verstaatlichung der Eisenbahn und der Energieversorgung beispielsweise», sagt McDonald. Und der Labour-Abgeordnete Hopkins nennt den ersten Schritt hierzu: Labour müsse sich in die Debatte einbringen, um die Austrittsverhandlungen von sozialdemokratischer Perspektive aus zu führen. Gerade jetzt, da die Tories in der Krise sind, böte sich dazu eine Gelegenheit – falls sich Labour nicht selbst in einem Führungskampf verliert.