Ein politisches Verbrechen: Kein Mensch kommt aus dem Nichts
Der Massenmord von Oslo und Utöya gründet nicht einfach auf den fatalistischen Launen des absolut Bösen. Selbst das wahnsinnigste Verbrechen spiegelt die Befindlichkeit einer Zeit und einer Gesellschaft. Wir müssen darüber reden, wie solcher Fanatismus zu verhindern wäre.
Seit zwei Wochen berichten die Medien über den Massenmord des Norwegers Anders Behring Breivik. Auf den ersten Blick scheint es, dass der Attentäter sein oberstes Ziel erreicht hat: Er hat mit einem Maximum an Zerstörung ein Maximum an Beachtung produziert. Diese Methode zur Herstellung von Öffentlichkeit hat Breivik gemäss eigenen Angaben seinem Erzfeind Osama Bin Laden und den islamistischen Terroristen abgeschaut, und sie ist in gewissem Sinne unfehlbar. Über Attentate wie jene vom 11. September 2001 oder das Massaker in Norwegen kann man nicht schweigen. Jede demokratische Gesellschaft muss ein solch kollektives Trauma ausführlich und öffentlich verarbeiten. Wir alle werden noch lange über das Hassverbrechen in Oslo und Utöya reden müssen. Da haben wir gar keine Wahl. Aber wir können entscheiden, wie wir darüber reden.
Eine Möglichkeit ist, die unfassbare Grausamkeit auszuhalten, indem wir sie umgehend als das «ganz andere» von uns weisen. Jens Breivik zum Beispiel, der Vater des Attentäters, hat seinen Sohn nach der schrecklichen Tat verstossen und ihm den Tod gewünscht. Als ein Reporter den ehemaligen Diplomaten fragte, was seine Botschaft für den mutmasslichen Massenmörder sei, antwortete der Mann, er habe nichts zu sagen. Sein Sohn lebe in einer anderen Welt und würde ihn doch nicht verstehen.
Die Schwachen dem Bösen überlassen?
Ähnlich hat in der Schweiz Konrad Hummler, Privatbanker und Verwaltungsratspräsident der NZZ, reagiert. Er sieht in Anders Breivik das Böse schlechthin und bedauert bloss, dass wir uns die objektive und absolute Schuld eines Einzelnen nach der Teufelsaustreibung der Aufklärung kaum noch vorzustellen vermögen. Hummler schreibt: «Es gälte, umzudenken, Abschied zu nehmen von der Möglichkeit völkischer, rassistischer, ideologischer, religiöser oder konfessioneller ‹Begründungen› für Gewaltanwendung.» Meint er das wirklich? Ist für ihn der Begriff des «Hate crime», der Hasskriminalität, der nicht nur in den USA, sondern auch in den meisten europäischen Ländern in der Rechtsprechung Anwendung findet, null und nichtig? Will Hummler im Ernst leugnen, dass es Verbrechen gibt, die sich nicht gegen ein Individuum, sondern gegen VertreterInnen bestimmter Ethnien, Religionen, Ideologien, gegen ein bestimmtes Geschlecht oder eine geschlechtliche Orientierung richten? Dann wären auch die schweizerischen Antirassismusgesetze ein kompletter juristischer Fehlgriff. Soll man gewaltbedrohte Minderheiten fortan nicht mehr schützen, sondern fatalistisch den Launen des absolut Bösen überlassen?
Auch wenn jedes Gewaltverbrechen einen unfassbaren Teil beinhaltet – nennen wir es ruhig das «Böse» –, so spiegelt doch selbst noch das wahnsinnigste Verbrechen die Befindlichkeit einer Zeit und einer Gesellschaft wider. Kein Mensch, auch kein verwerflicher Mensch, kommt aus dem Nichts.
Abschied von der Aufklärung
Für den 1979 geborenen Breivik zum Beispiel ist es charakteristisch, dass er mit Computern aufgewachsen ist. Das Internet gehörte für ihn immer schon dazu. Nach seiner Handelsmatura versuchte er, als Jungunternehmer im zukunftsgerichteten Softwaregeschäft Geld zu machen, um seine rückwärtsgewandten, christlich-nationalen Ziele zu finanzieren. Daneben bastelte er sich mithilfe der global produzierten Kommunikationstechnologie eine monokulturelle, vormoderne Ritterzeit.
Solche biografischen Details bedeuten keinesfalls, dass Computer und Internet den Massenmord in Norwegen (mit-)verursachten. Doch die von Anfang bis Ende virtuell begleitete Tragödie von Norwegen sollte uns in Erinnerung rufen, dass die neuen Technologien nicht bloss soziale Medien ermöglichen, die die Menschen zusammenbringen und in Solidarität verbinden, so wie das in jüngster Zeit im arabischen Frühling geschah. Ebenso gut kann der Computer randständige Menschen oder Gruppierungen sozial isolieren und zum geistigen Tunnelblick verführen. Im Netz kann sich jede ihre eigene Sicht auf die Welt endlos bestätigen und bestärken lassen, ohne sich je anderen Ansichten oder nur schon der faktischen Wirklichkeit aussetzen zu müssen. Diese ideologische Selbstbefriedigung ist für viele Menschen, besonders jene, die zu Verschwörungstheorien neigen, offenbar so angenehm und bequem, dass sich die populistischsten unter den herkömmlichen Medien und politischen Parteien von der Aufklärung verabschieden. Statt zu informieren und zu debattieren, beschränken sie sich fortan weitgehend darauf – ähnlich wie gewisse Foren im Internet –, Echokammer für die fixen Ideen, den Frust und den Hass ihres Publikums zu sein. Diese Tendenz, die es auch in der Schweiz gibt, ist in den USA besonders ausgeprägt, bei Fox News etwa oder bei der Tea Party. Ihr Rechtspopulismus hat dazu geführt, dass noch die randständigsten Verschwörungstheorien wie die angebliche muslimische Unterwanderung der Obama-Regierung normalisiert und in die öffentliche Diskussion aufgenommen werden und sich der Unterschied zwischen Wahrheit und Illusion immer weiter verwischt.
Als Echokammern für den christlich-nationalistischen Anders Breivik dienten die rechtspopulistische norwegische Fortschrittspartei im Verbund mit einer norwegischen Freimaurerloge. Doch nach ein paar Jahren Mitgliedschaft musste der Rassist wie ein Süchtiger die ideologische Dosis erhöhen. Er brauchte reineren Stoff. Auf den sehr zahlreichen islamophoben und rechtsextremistischen Internetseiten fand er Bausteine für seine neu aufgewärmte alte Utopie vom Herrenmenschen. Sein 1500-Seiten-Manifest enthält massenhaft Zitate von Fjordman, einem angeblich in Norwegen lebenden islamfeindlichen Blogger, dazu Pamphlete von rechtsextremistischen Websites aus den USA, Äusserungen von feurigen Islamkritikern aus den bürgerlichen Feuilletons, zivilisationskritische Gedanken des ökoanarchistischen Unabombers Ted Kacsynski und anderes mehr. Aus solchen Versatzstücken baute Anders Breivik ein «illo tempore», eine mythische Vergangenheit, die es so nie gab. In dieser Parallelwelt durfte ein Mann noch Mann sein, Norwegen gehörte den Norwegern, und Europa war eine islamfreie Zone – rein, weiss und christlich.
Institutionalisierter Rassismus
Kein vernünftiger Mensch wird eine direkte Kausalität zwischen einzelnen von Breivik benutzten Quellen und dem Massaker in Oslo und Utöya herstellen wollen. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, wo und wie Breivik seinen Hass auf alles Fremde, Linke, Multikulturelle, und Feministische aufladen konnte. Man müsste doch weltweit darüber diskutieren, wie solcher Fanatismus zu verhindern oder zumindest zu vermindern wäre. – Genau das haben übrigens die 600 Jugendlichen auf der Unglücksinsel zum Zeitpunkt des Massakers getan!
Der Massenmord in Norwegen ist nicht politisch neutral. Ein fanatischer Rassist schlachtete junge Menschen ab, die sich für eine offene multikulturelle Gesellschaft einsetzten. In Oslo und auf Utöya hat ein Rechter auf Linke geschossen. So wie das in den USA seit der Wahl des Afroamerikaners Barack Obama zum Präsidenten auffallend häufig geschah; man erinnert sich vielleicht noch an die Schüsse von Jared Loughner auf die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords im Bundesstaat Arizona Anfang des Jahres (siehe WOZ Nr. 2/11). Und wie das in Arizona der Fall war, so lassen die Rechten auch im Fall Norwegen jeglichen Ansatz zu Selbstkritik oder nur schon Nachdenklichkeit vermissen. Hier wie dort streiten sie den Zusammenhang von Wort und Tat schlichtweg ab. «Hunderttausende haben meine Essays über die Jahre gelesen, und soweit ich weiss, hat nicht ein Einziger von ihnen deswegen auch nur einen Sperling getötet», behauptet Breiviks «Lieblingsautor» Fjordman in einem E-Mail-Interview mit dem deutschen Nachrichtenmagazin «Der Spiegel». So genau weiss der Autor natürlich nicht, welche Hassrede und welche xenophoben Worte jeweils den entscheidenden Funken zur Gewalttat liefern. Soziologische, psychologische und historische Studien, die den generellen Zusammenhang zwischen einem vergifteten politischen Klima und Gewalttaten faktisch belegen, gibt es hingegen zuhauf.
Im Sinne einer offenen Gesellschaft
Aber diese wissenschaftlichen Erkenntnisse gelten offenbar nicht für Parallelwelten wie Henryk Broders Blog «Achse des Guten». Er würde alles wieder genau gleich schreiben, sagte der deutsche Publizist trotzig, nachdem er auf seine Präsenz in Breiviks Manifest angesprochen wurde. Nicht nur weist Broder jeden Zusammenhang mit Oslo und Utöya weit von sich, er geht noch einen Schritt weiter und sieht sich selber als indirektes Opfer des Attentats: Weil in Norwegen so viele Menschen von einem Irren umgebracht wurden, der zufällig auch gegen den Islam wetterte, könne er wohl in Zukunft auf Druck der Multikulturalisten und Gutmenschen seine Islamkritik nicht mehr frei ausüben. Was unterscheidet diesen Autor noch von rechtsextremen Randgruppen, die sich zwar von der Hasstat Breiviks distanzieren, aber unbeirrbar an seiner hasserfüllten Weltsicht festhalten?
Am Wochenende berichtete die NZZ von einer nationalistischen norwegischen Splittergruppe, die ein ökumenisches Zentrum in Stiklestad bei Trondheim verhindern will. Stiklestad sei heilig und gehöre nicht den Muslimen, erklärte ihr Sprecher gegenüber der Lokalpresse: «Wer den Dialog sucht, soll nach Medina reisen.» Auch diese Gruppe verurteilte Breiviks Mordtat, sagte aber im gleichen Atemzug, dass der Mörder im Grunde gar nicht so unrecht habe.
Eine klare Distanzierung von Breiviks weissen Wahnideen oder gar Solidarität mit den weltoffenen Idealen der jungen Opfer von Utöya ist auch von der rechtskonservativen «Weltwoche» bestimmt nicht zu erwarten. Es erstaunt kaum, dass Chefredaktor Roger Köppel jeden Sinnzusammenhang der rechtspopulistischen Szene mit dem Massenmörder bestreitet und die «europa- und zuwanderungskritischen Parteien» von jeder Mitschuld entlastet. Was hingegen für einen Moment lang sprachlos macht: dass Köppel es wagt, den Spiess einfach umzudrehen und den Täter zum Opfer beziehungsweise die Opfer zu Tätern zu machen. «Wenn schon, wäre Breivik das Resultat einer Unzufriedenheit und Ohnmacht, die europaweit von der elitären, der Lebensrealität der Leute immer stärker entrückten politischen Klasse verursacht werden. Breivik ist die pervertierte Variante des europäischen ‹Wutbürgers›», schreibt der Chefredaktor in seinem Leitkommentar. Will ein gestandener Medienmann wie Köppel mit dieser breivikschen These, dass die «politische Elite», sprich die Sozialdemokratie und alle politischen Parteien ausser den Rechtspopulisten, an allen Übeln dieser modernen Welt, insbesondere an der «Zuwanderung aus muslimischen und / oder afrikanischen Ländern», und letztlich sogar am Attentat auf sich selbst schuld seien, bloss provozieren und die Auflagezahlen steigern? Oder glaubt er das tatsächlich?
Mehr noch: Die relative Abwesenheit von rassistischer Gewalt in der Schweiz verdankt sich laut Köppel der Zulassung von institutionalisiertem Rassismus: «In der Schweiz können die Leute über Minarette abstimmen und müssen nicht zu anderen Methoden greifen, um ihren Standpunkt auszudrücken.»
So gesehen wäre das fremdenfeindliche SVP-Initiativzeitungselaborat «Masseneinwanderung stoppen!», das kurz nach dem fremdenfeindlichen Attentat in Norwegen in alle Schweizer Haushaltungen flatterte, ein höchst patentes Mittel zur Sicherung des gesellschaftlichen Friedens. Und die vielen schwarzen und vermutlich schmutzigen Schuhe, die da auf unserer schönen roten Schweizer Fahne herumtrampeln, stellten einen weiteren Beitrag zur Verständigung mit dem Wutbürger dar.
Derweil haben die Gutmenschen von Norwegens Staatsanwaltschaft beschlossen, dass Anders Breivik für jeden einzelnen Mord Rechenschaft abzulegen habe. Das gebiete der Respekt vor den Toten und deren Angehörigen. Man könnte einwenden, ein solcher Prozess biete dem öffentlichkeitsgeilen Täter eine viel zu grosse Plattform. Doch die Norwegerinnen und Norweger lassen sich ihren Sinn für Gerechtigkeit nicht von einem Massenmörder bestimmen. Sie werden weiter über Anders Breivik reden – im Rahmen ihrer offenen Gesellschaft.