Revolutionäres Kino: «Gute Filme haben das Potenzial, unser Weltbild umzustürzen»

Nr. 31 –

Lukas Germann hat das revolutionäre Potenzial des Kinos erforscht. Im Interview spricht er über die Vorhersagbarkeit von Ken-Loach-Filmen, den Wert von Splatterfilmen und erklärt, warum die radikale Linke wieder öfter ins Kino gehen sollte.

Lukas Germann

WOZ: Lukas Germann, die Revolution ist heute im grossen Stil im Mainstreamkino angekommen, mit Filmen wie «Mad Max: Fury Road», «Snowpiercer», «The Dark Knight» oder sogar «The Lego Movie» … Die Liste liesse sich fortsetzen. Was halten Sie davon?
Lukas Germann: Mich interessiert die Wirkung der filmischen Ästhetik, das Thema eines Films ist dafür nahezu irrelevant. Ein Film, der in meinem Verständnis revolutionär ist, kann auch am Familientisch spielen. Interessanter als diese Revolutionsblockbuster finde ich, dass in letzter Zeit viele Filme und Serien ästhetische Wagnisse eingehen. Mir kommt da «The Revenant» in den Sinn, der sich ganz der düsteren Stimmung seiner Landschaftsbilder anvertraut; oder «The Wire», wo die gezeigten Hinterhöfe und Strassenecken selbst zur Handlung gehören. In beiden Fällen wird die Gegend in ihrer filmästhetischen Darstellung zum tragenden Faktor, der mindestens ebenso wichtig ist wie die erzählte Geschichte.

In Ihrem Buch analysieren Sie beinahe tausend Filme aus allen Epochen, Genres und Erdteilen. Das klingt beliebig. Wie haben Sie ausgewählt?
Grundsätzlich untersuche ich Filme, die ich mag. Meistens deckt sich das mit dem Kanon des Kunst- und Autorenkinos, aber nicht immer. Die Filme von Terrence Malick etwa, einem Kritikerliebling, lassen mich völlig kalt. Ich sehe darin bloss die Ästhetik eines Mercedes-Werbespots. Ein weiteres Beispiel ist Ken Loach, der besonders bei Linken beliebt ist. Seine Filme würde ich als Tendenzfilme bezeichnen: Die Ausgangslage gibt von Anfang an preis, worauf die Geschichte hinausläuft. Ein Satz von Goethe trifft meine Einstellung da sehr gut: «Man fühlt die Absicht, und man ist verstimmt.»

Was ist daran schlimm, wenn Linke im Kino Bestätigung suchen?
Schlimm finde ich das nicht, einfach banal. Die Frage ist, warum wir überhaupt Filme schauen. Oft tun wir das als Erholung nach einem langen Arbeitstag oder eben zur Bestätigung der eigenen Weltanschauung. Das hat klar seine Berechtigung. Aber Filme können mehr als das.

In Ihrem Buch behaupten Sie, Filme könnten selber eine politische Wirkung entfalten.
Zuerst müssen wir darüber sprechen, was «politisch» in diesem Zusammenhang bedeutet. In meinem Buch spielt die ästhetische Theorie von Theodor W. Adorno eine wichtige Rolle: Demnach soll sich die Kunst nicht direkt engagieren, sondern sie ist dadurch politisch relevant, dass sie das Produkt gesellschaftlicher Arbeit ist. Sie entsteht aus einer konkreten Situation heraus und wirkt wieder auf sie zurück. Dadurch haben gute Filme das Potenzial, unser Weltbild umzustürzen.

Echt?
Das habe ich selber erlebt. Auch durch die Auseinandersetzung mit Filmen hat sich in den letzten zehn Jahren meine politische Haltung verändert. Mein Buch ist noch klar aus einer marxistischen Position heraus geschrieben. Ich würde aber sagen, dass die Filme, die ich analysiere, diese Haltung selber untergraben. Es ist ein Buch, das man unbedingt gegen die Position seines Autors lesen sollte.

Sie behaupten, Filme könnten die Welt verändern. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Das geschieht natürlich nicht automatisch. Ein guter Film ist ein Angebot an diejenigen, die sich von ihm herausfordern lassen. Dass Filme direkt politisch gewirkt und sich mit politischer Praxis verbunden haben, geschah in der Filmgeschichte eigentlich nur zweimal: während der Russischen Revolution und 1968. Jean-Luc Godard etwa hat sich auch als Aktivist verstanden.

Haben Godards Filme auch direkt politische Praxis provoziert?
Man kann die Ereignisse beim Filmfestival von Cannes 1968 nennen, als Godard und andere politisch engagierte Filmemacher aus Solidarität mit den streikenden Arbeitern und Studierenden den Abbruch des Festivals durchsetzten. Wichtiger aber ist wohl, dass Godards Filme sicher viele Leute mit anderen, ungewohnten Sichtweisen auf die Welt konfrontiert und sie zum Nachdenken gebracht haben. Die Bereitschaft, die Dinge nicht einfach so, wie sie sich oberflächlich zeigen, zu akzeptieren, über die Wirklichkeit nachzudenken und sich herausfordern zu lassen, ist die Voraussetzung jeder politischen Praxis, die den Namen «emanzipatorisch» verdient.

Und heute?
Abgesehen von diesen «revolutionären» Situationen können Filme auch im Kleinen politisch wirken. Ich selber habe das erlebt, als ich den philippinischen Regisseur Lav Diaz entdeckt habe. Seine Filme spielen meistens in einer Gefahrensituation. «Death in the Land of Encantos» etwa dokumentiert die apokalyptische Situation auf den Philippinen nach dem Taifun Durian, der 2006 Tausende Opfer gefordert hat. Weil sich der Film so viel Zeit lässt – er dauert neun Stunden –, können sich reale Interviews und fiktive Elemente zu einer einzigartigen filmischen Erzählweise verbinden. Der Film erzeugt so eine ganz andere Wahrnehmung von Raum und Zeit. Als ich aus dem Kino kam, hat der Film noch lange an mir weitergenagt und für eine Weile meine ganze Wahrnehmung beeinflusst. In meiner Wahrnehmung hat die Welt dadurch für eine Weile ihre fixen Strukturen verloren.

Was macht die Ästhetik dieses Films aus?
Einerseits konfrontiert er uns schockartig mit dem Elend nach dieser Naturkatastrophe, andererseits ästhetisiert er das Elend auch. Ich würde sagen, dass diese Ästhetik einen anderen Blick darauf ermöglicht als zum Beispiel die Medienberichte über ertrunkene Flüchtlinge im Mittelmeer, die uns immer wieder das Gleiche zeigen und dadurch unsere Wahrnehmung abstumpfen. An solcher Abstumpfung können Filme im besten Fall ein wenig rütteln.

Der Schock, den Sie bei Diaz beschreiben, spielt in Ihrem Buch eine zentrale Rolle.
Ein sehr eindrückliches Beispiel für einen gelungenen Schock bietet «Waltz with Bashir», der im ersten Libanonkrieg spielt und aus der Perspektive eines israelischen Soldaten erzählt. Der Film ist dokumentarisch und dennoch komplett animiert. Mit Ausnahme der letzten Szene, in der wir die Folgen eines Gemetzels sehen. Durch den ästhetischen Bruch von Animation zu Realismus wirken die Bilder umso wuchtiger. Die Wirklichkeit erhält dadurch ihre Wirkung zurück.

Bezüglich Gewalt vertreten Sie eine kontroverse Position. In einem Kapitel Ihres Buchs outen Sie sich als Fan sogenannter Brutalofilme.
Mir geht es um die Rettung des Schockerlebnisses, wenn wir aus dem Film heraus plötzlich in unserer scheinbar sicheren Zuschauerposition attackiert werden. Ich behaupte nicht, dass jeder Splatterfilm politisches Potenzial hat. Aber Leuten, die Gewalt im Film aus moralischen Gründen per se ablehnen, würde ich vehement widersprechen. Bei der Darstellung von Gewalt bin ich grundsätzlich vorsichtig mit der klaren Grenze zwischen Kunst und Trash. Das ist für mich ein fliessender Übergang.

Im Buch schreiben Sie über einen Film von Godard, nicht dieser sei elitär, sondern der Anspruch des Alltagsverstands, ihn nach seinen Paradigmen verstehen zu wollen. Müssen politische Filme unverständlich sein?
Godard hat dazu einmal einen spielerischen Kommentar gemacht, in einer Zeit, als er sich vom narrativen Kino beinahe verabschiedet hatte. Über «Un film comme les autres» von 1968, einen seiner sperrigsten Filme, sagte er, Filme wie diesen werde man nach der Revolution im Nachmittagsprogramm sehen. Was aber im Abendprogramm gezeigt würde, könnte sich nicht einmal er mehr vorstellen. Ich würde sagen: Nicht das Unverständliche an sich ist revolutionär, sondern das, was unser Verständnis der Welt herausfordert.

Dennoch sind es in der Regel nur eine Handvoll Cinephiler, die sich solche Filme überhaupt ansehen. Ist die Art von Erfahrung, um die es Ihnen geht, nicht diesen Leuten vorbehalten?
Wenn man herausfordernde Filme elitär nennt, sagt man eigentlich nur, dass man sich nicht mit ihnen auseinandersetzen mag. Ehrlich gesagt mache ich mir darüber gar nicht so viele Gedanken. Adorno etwa vergibt sich sehr viel damit, dass er zwischen Hochkultur und Kulturindustrie unterscheidet, was man so gar nicht machen kann. Ob ein künstlerisches Produkt massenweise rezipiert wird oder nicht, sagt nichts über seine Qualität aus.

«Revolutionär» ist ein grosses Wort. Was verstehen Sie darunter?
Unter diesem Begriff verstehe ich, dass die Wirklichkeit mit ihren Möglichkeiten konfrontiert wird und die Spielräume erweitert werden. Dagegen gibt es heute viele Tendenzen in der Linken, die ich für völlig antiemanzipatorisch halte. Um beim Beispiel Film zu bleiben: Die linke Kritik an speziellen Filmen unterscheidet sich oft gar nicht so stark von derjenigen von rechts. Beide Seiten wollen nur die Bestätigung ihrer festgefahrenen Weltsicht. Sie sind nicht bereit, sich verunsichern zu lassen.

Und wenn wir über den Film hinausschauen?
Die Linke tritt oft nur noch als moralischer Zeigefinger auf. Ganz fatal finde ich, dass die Rechten heute ungestört als Provokateure auftreten können. Die Linke hat das dagegen völlig verlernt, weil sie sich zu viele Rede- und Denkverbote auferlegt. Natürlich ist die Provokation bei den Rechten nur eine Täuschung, weil sie gar keine Möglichkeitsräume schaffen will, die über das Bestehende hinausgehen.

Stossen Ihre Thesen in der Linken auf fruchtbaren Boden?
Ich komme ursprünglich aus der autonomen Szene. Dort findet man generell kaum Bereitschaft, sich auf Kunst einzulassen. Sie wird eher als propagandistisches Mittel angeschaut, mit dem man linke Slogans verbreiten kann.

Also sollte die radikale Linke mehr ins Kino gehen?
(Lacht.) Etwas Verunsicherung würde ihr auf jeden Fall guttun.

Ist das nicht gerade das Problem der Linken, dass sie schon viel zu stark verunsichert ist?
Wenn wir verunsichert werden, können wir das einerseits als Angriff auf unser lieb gewonnenes Selbstverständnis begreifen und uns als Reaktion umso ängstlicher an das klammern, was wir aus Gewohnheit für richtig halten. Das ist die dogmatische Reaktion. Es ist aber andererseits auch möglich, dass wir solche Verunsicherungen als produktiv erleben, sie als Erweiterung möglicher Perspektiven wahrnehmen und uns bewusst machen, dass es nicht die eine, «wahre» Sicht der Dinge gibt. Von einer solchen lustvollen Skepsis ist in der Linken leider wenig zu spüren.

Der Filmforscher

Lukas Germann (42) hat in Zürich und Basel Philosophie und Germanistik studiert. Seine Dissertation zum revolutionären Potenzial filmischer Ästhetik ist in diesem Frühjahr unter dem Titel «Die Wirklichkeit als Möglichkeit» im Diaphanes-Verlag erschienen (528 Seiten, 46 Franken). Zurzeit arbeitet Germann als Gymnasiallehrer und erstellt ein Konzept für philosophische Workshops.