Syrien und die Schutzherren: Die Logik der Eskalation
Es liegt in der Logik von Stellvertreterkriegen, dass die lokalen Konfliktparteien immer dann zusätzliche militärische Hilfe von aussen bekommen, wenn sie ins Hintertreffen geraten. Das ist ein Leitsatz aus der sogenannt realistischen diplomatischen Denkschule. Im syrischen Krieg stellt dieser Leitsatz seit Jahren eine der wenigen Konstanten dar – neben der Tatsache, dass bei dieser «Realpolitik» niemand an den Schutz der Bevölkerung denkt. Die Folgen: Über 400 000 SyrerInnen wurden seit 2011 getötet, 11,6 Millionen sind auf der Flucht.
Gemäss realistischer Logik haben Stellvertreterkriege also die Tendenz, immer mehr zu eskalieren – ausser die sogenannten Schutzherren, die hinter den lokalen Konfliktparteien stehen, einigen sich irgendwie. Im Kalten Krieg kam ein solches Gleichgewicht zwischen den USA und der Sowjetunion recht häufig zustande. Meist war es eine waffenstarrende, von Angst getriebene Einigung – das perverse Gleichgewicht zwischen Atommächten, die auf die gegenseitige Zerstörung programmiert waren.
In Syrien ist die Situation komplexer. Es gibt eine Vielzahl von Schutzherren, die immer mal wieder anders Einfluss nehmen – und vereinzelt, wie gerade eben die Türkei, gar die Seiten wechseln. Und es gibt zahlreiche lokale Konfliktparteien – Milizen, Armeen, Terrorgruppen und eine Regierung –, die sich laufend neu formieren, Allianzen bilden und gelegentlich die Schutzherren gegeneinander ausspielen.
Mitte 2013 machten sich die USA und europäische Staaten daran, die «gemässigte Opposition» im Umfeld der Freien Syrischen Armee (FSA) aufzurüsten – was die Regierung von Präsident Baschar al-Assad dazu brachte, noch mehr militärische Hilfe aus dem Iran und Waffen aus Russland zu holen. Das Gleichgewicht war wieder hergestellt, aber auf einem höheren Gewaltniveau.
Im Frühjahr 2015 einigten sich die Türkei und Katar mit Saudi-Arabien darauf, fortan ihre Syrienpolitik zu koordinieren. Anstatt gegenseitig verfeindete Gruppierungen zu unterstützen, gründeten sie die salafistische Rebellenkoalition Dschaisch al-Fatah. Dadurch geriet Assad im Norden enorm unter Druck. Um diese Situation zu ändern, sprang wieder ein Schutzherr ein: Russland fliegt seit September Luftangriffe gegen alle möglichen Regimegegner. Ein neues Gleichgewicht, ein noch höheres Gewaltniveau.
Und nun sind offenbar die KurdInnen in Nordsyrien stärker geworden, als es das Gleichgewicht erlaubt. Bisher wurden sie von den USA unterstützt und von Assad und Russland zumindest geduldet. Letzte Woche hat die syrische Luftwaffe in Hasaka zum ersten Mal kurdische Kräfte bombardiert – was auch als freundliche Geste gegenüber der Türkei gedeutet werden kann. Diese hat kurz darauf ihrerseits erstmals kurdische Stellungen in Syrien aus der Luft angegriffen. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte kurz zuvor seine Differenzen mit dem russischen Amtskollegen Wladimir Putin beiseitegelegt und war vom Assad-Feind zum pragmatischen Assad-Dulder mutiert.
Erdogan sieht nicht nur den Terror durch den «Islamischen Staat» als Bedrohung, sondern vor allem die kurdische Autonomiebewegung. Indem er den Erhalt des syrischen Staatssystems über die Feindschaft mit dem syrischen Staatschef stellt, will er diese «Probleme» lösen – und ist so zu einem zusätzlichen gewichtigen Schutzherrn der syrischen Regierung geworden.
Dass das Assad-Regime, das in erster Linie für den syrischen Krieg verantwortlich ist, zunehmend isoliert würde und bald einmal kollabieren könnte, wird damit endgültig zur Illusion. Inzwischen reicht dessen Unterstützungsallianz gar noch über Teheran, Ankara und Moskau hinaus: Mitte August war der chinesische Armeechef in Damaskus und versprach eine «militärische Kooperation».
Es liegt in der Logik des Stellvertreterkriegs, dass nun wohl die Golfstaaten wiederum ihre Gruppierungen vor Ort stärken werden. Bis zu einem neuen Gleichgewicht mit noch mehr Toten, Verletzten, Hungernden und Flüchtlingen. Die Weltmächte hätten es in der Hand, diese Logik zu durchbrechen – am Verhandlungstisch.