Brasiliens neuer Präsident: Er tut so, als wäre das ganz normal

Nr. 36 –

Michel Temer will die Rechte von ArbeiterInnen und Armen beschneiden und gleichzeitig Korruptionsermittlungen gegen ihn selbst und andere vergessen machen. Doch der Widerstand gegen den neuen Präsidenten wächst.

Folgt man den Tweets von Brasiliens neuem Präsidenten Michel Temer, so sieht man derzeit eine Menge Fotos. Sie zeigen den 75-Jährigen in Gesellschaft anderer Regierungschefs am Rand des G20-Gipfels in China. Da schüttelt Temer die Hand von Spaniens Ministerpräsident Mariano Rajoy und schreibt, dass man sich gegenseitig eingeladen habe. Er trifft Italiens Regierungschef Matteo Renzi, der den Besuch von 300 Geschäftsleuten in Brasilien angeregt habe. Dann sitzt er Japans Premier Shinzo Abe gegenüber. Zu guter Letzt steht Temer neben dem saudischen Prinzen Muhammad bin Salman. Der habe gesagt, ihre Länder seien enge Partner.

Es ist klar, welche Ziele Temer mit den Fotos verfolgt. Vergangene Woche hat er das Präsidentenamt nach dem Ende des zweifelhaften Absetzungsprozesses gegen Dilma Rousseff übernommen. Nun will er sich als Mann der Wirtschaft präsentieren, der Investitionen nach Brasilien holt. Die Bilder sollen Normalität vortäuschen. Mit der Nähe zu Renzi und Co. will Temer zeigen: Seht her, ich bin ein Regierungschef wie jeder andere.

Privatisieren auf Teufel komm raus

Doch das stimmt so nicht. Zum einen folgte das Impeachment gegen Rousseff nur bedingt den von der Verfassung vorgeschriebenen formal-juristischen Regeln und war vor allem ein politischer Prozess. Zum anderen will Temer ein sozial konservatives und wirtschaftlich neoliberales Programm durchsetzen, dem niemand in Brasilien jemals zugestimmt hat.

Temer hat den BrasilianerInnen versprochen, die Wirtschaft des Landes, die unter Rousseff in die Rezession gesteuert war, wiederzubeleben. Er will sich daran messen lassen, ob es ihm gelingt, den rund zwölf Millionen Arbeitslosen wieder eine Perspektive zu geben. Und er will den Staatshaushalt konsolidieren und damit InvestorInnen anlocken. Dabei stammen seine Rezepte aus dem neoliberalen Kochbuch. Staatliches Eigentum und Dienstleistungen sollen privatisiert werden, etwa die See- und Flughäfen – die Saudis sollen interessiert sein. Die Rechte von ArbeiterInnen will Temer zusammenstreichen: So soll das 13. Monatsgehalt abgeschafft und das Renteneintrittsalter drastisch erhöht werden. Sozialprogramme kommen auf den Prüfstand, etwa die «Bolsa Familia» (Familieneinkaufstasche) zur Unterstützung armer Familien und das Wohnungsbauprogramm «Minha Casa, Minha Vida» (Mein Haus, mein Leben).

Ebenso beschnitten werden sollen eine Alphabetisierungskampagne und Stipendien zum Austausch junger WissenschaftlerInnen sowie zur Förderung von SportlerInnen aus armen Verhältnissen. Gerade das letzte Vorhaben wirkt kurz nach den Olympischen Spielen anachronistisch. Die Judoka Rafaela Silva, Brasiliens gefeierte erste Goldmedaillengewinnerin der vergangenen Spiele, wurde wie viele andere SpitzenathletInnen von dem Programm gefördert.

Korruption? War da was?

So viel Wert Temer der Wirtschaft beimisst, so wenig ist er an einem Fortgang der Korruptionsermittlungen interessiert. Seit der Absetzung Rousseffs hört man nichts mehr über den Schmiergeldskandal rund um den halbstaatlichen Ölkonzern Petrobras. Monatelang hatte dieser die Schlagzeilen beherrscht, nun scheint er nie existiert zu haben. Das Schweigen der konservativen Medien sowie einer politisch agierenden Staatsanwaltschaft wirkt wie Komplizenschaft mit der neuen Regierung. Temer und zahlreiche Abgeordnete und SenatorInnen seiner Koalition wurden bereits im Zusammenhang mit Korruptionsaffären genannt. Mehr als einen Beigeschmack hat auch die von Temer angestrebte Erhöhung der Gehälter der brasilianischen VerfassungsrichterInnen, die ihre schützende Hand über den Impeachmentprozess hielten: Sie steht im krassen Kontrast zum immer wieder zitierten Spardiktat.

Ein Grossteil der Bevölkerung mag die Absetzung Rousseffs begrüsst haben. Aber es wächst auch Widerstand. Seit einer Woche finden fast täglich Demonstrationen gegen den «Putsch» statt. Mit steigender Beteiligung: Zuletzt waren in São Paulo bis zu 100 000 Menschen auf der Strasse. Der Zuwachs mag eine Reaktion auf Temers unverschämte Bemerkung sein, dass der Protest nur eine Sache von vierzig Personen sei, die Autos demolierten. Ebenso kann man ihn auf die Gewalt der Militärpolizei zurückführen, die willkürlich Tränengas und Gummigeschosse einsetzt. Wie schon bei den Protesten 2013 geht sie brutal gegen die DemonstrantInnen vor, was den Zorn vieler Menschen steigert. 2013 führte die Polizeigewalt in São Paulo zur Ausbreitung der Proteste über ganz Brasilien. Ob es diesmal ähnlich wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die BrasilianerInnen Temers neoliberale Politik aufnehmen werden.

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