Film «Un Juif pour l’exemple»: Im Echoraum der Geschichte

Nr. 37 –

Ein kurzer Film über das Töten: Jacob Berger hat Jacques Chessex’ Roman über den Judenmord von Payerne verfilmt. Aus der drastischen Suada wird dabei eine kluge Reflexion über Schuld und Verdrängung.

Ein toter Jude als Geburtstagsgeschenk für Adolf Hitler: Mechaniker Ischi (Aurélien Patouillard, links) mit seinen Schergen beim Schiesstraining. Still: Vegafilm

Auf dem Rücksitz beugt sich der Autor vor, wie ein Gespenst in seiner eigenen Geschichte, und streckt die Hand nach dem Fahrer aus, als wolle er diesen zurückhalten, ihn von seinem Weg abbringen. Am Steuer sitzt Arthur Bloch, jüdischer Viehhändler aus Bern, er ist unterwegs zum Viehmarkt in Payerne. Es ist der 16. April 1942, und dort, in der Waadt, wird ihn eine Schweizer Bande von Nazis in einen Hinterhalt locken, um ihn zu töten. Seine Leiche werden sie noch an Ort und Stelle zerstückeln und in Milchkesseln im See versenken.

Im Auto lässt der Schriftsteller, gespielt von André Wilms, jetzt seine Hand wieder sinken, eine kurze Geste der Hilflosigkeit. Jacques Chessex kann die Geschichte, die er niederschreibt, nicht aufhalten. Er kennt sie zu gut, hat er sie doch selbst miterlebt damals, als Bub von acht Jahren, und noch jetzt, als alten Mann, verfolgt sie ihn bis in seine Träume.

Die Szene zeigt, wie klug sich Regisseur Jacob Berger in seinem neuen Spielfilm der literarischen Vorlage von Jacques Chessex (1934–2009) nähert: nicht einfach als filmischer Chronist der verbürgten Untat, die Chessex in seinem letzten Buch umkreist, sondern konsequent mit doppeltem Blick auf Werk und Autor, auf Geschichte und Gegenwart. Berger hat also nicht einfach den Roman verfilmt, sondern auch die Reaktionen darauf, weil in diesem Fall beides kaum voneinander zu trennen ist.

Exorzismus und politische Anklage

Das ist als Konzept schon kühn genug. Umso beeindruckender ist, wie elegant das in der Umsetzung funktioniert. Natürlich ist «Un Juif pour l’exemple» politisch ein wichtiger Film, aber das ist er schon aufgrund des Stoffs. Künstlerisch herausragend wird diese Verfilmung dadurch, dass Berger das Kino als Reflexionsraum versteht, als Echokammer – und nicht als Friedhof für irgendein stilecht kostümiertes Vergangenheitsbewältigungstheater, wie wir das vom deutschen Geschichtsfernsehen zur Genüge kennen.

Als Roman ist «Ein Jude als Exempel» ja ein persönlicher Exorzismus und eine politische Anklage: der späte Versuch eines Zeitzeugen, sein Trauma von damals literarisch zu verarbeiten, als drastische Suada und als Stossgebet. Eine «Liturgie der Scheisse» nennt es eine Kritikerin gleich zu Beginn des Films, als Verdikt aus dem Off: Stilnote gut, aber der Inhalt? Unerträglich! Dazu sehen wir den alten Chessex, wie er allein in einer gläsernen Sendekabine sitzt, vor sich ein Radiomikrofon. Er soll in eine Literatursendung zugeschaltet werden, aber die Verbindung funktioniert nicht, der Autor ist zum Zuhören verdammt. Er krümmt sich auf seinem Stuhl, wie er das Geplapper der anderen mithört, die in einer Diskussionsrunde herziehen über ihn, den greisen Schriftsteller, der in seinem Roman so lustvoll, wie sie finden, in der Schande von damals wühlt.

Damals: Da ist der Frontist und Theologe Philippe Lugrin, der in der Romandie sein Unwesen treibt und mit seinen Hetzreden die antisemitischen Ressentiments im Land bedient und befeuert. Da ist der Mechaniker Fernand Ischi (Aurélien Patouillard), Garagist von Payerne, der sich im Fall eines Anschlusses an das «Dritte Reich» schon als künftigen Gauleiter sieht und von Lugrin anstiften lässt, einen Juden aus der Gegend zu töten, als Exempel und als «Geschenk» für Hitler zu dessen bevorstehendem Geburtstag. Da sind die willigen Getreuen, die Ischi für sein Vorhaben um sich schart, arme Bauernsöhne und arbeitslose Fabrikarbeiter. Und da ist eben auch ein Schulbub namens Jacques Chessex, Sohn des örtlichen Schuldirektors und Klassenkamerad von Ischis Tochter.

So rollt Jacob Berger in kurzen Vignetten das historische Geschehen auf, aber stets spukt dabei auch die Gegenwart herum: einerseits in der Figur des alten Chessex, der wie ein Zeitreisender durchs Jahr 1942 irrt und entgeistert mitschreibt, als der Hassprediger Lugrin in der Beiz seine Reden schwingt. Aber auch in der historischen Ausstattung funken immer wieder beiläufige Anachronismen dazwischen: Einmal erhebt sich im Hintergrund ein modernes Geschäftshaus, auch die Autos in Ischis Garage sind von heute. Und als der kleine Jacques an der Hand seines Vaters durch das Payerne von 1942 geht, passieren sie nachts ein Plakat, das wir von 2009 kennen. Es zeigt drei Raben, die auf die Schweiz einhacken, nur dass einer der Vögel hier Hammer und Sichel um den Hals trägt und ein anderer den Davidstern: Minimale Retuschen nur, und ein einschlägiges SVP-Plakat erscheint als historisches Dokument der Frontistenschweiz.

Plakativ? Mag sein, aber Jacob Berger nimmt hier letztlich nur den Roman beim Wort, in dem Chessex von einer Stimme schreibt, die ihm keine Ruhe lässt im Kopf: «Also ist früher? Und früher ist jetzt?» Es ist der vielleicht entscheidende Satz für diese Verfilmung, die die Zeiten nicht in billigen Analogien einebnet, sondern miteinander kollidieren lässt. Der Film predigt nicht: Heute ist es wieder genauso wie damals. Er fragt: Wie spiegelt sich unsere Zeit in der Vergangenheit, und umgekehrt?

«Protestantische Schweinefresser»

Dabei geschieht fast alles zweimal in diesem siebzig Minuten kurzen, ungeheuer dichten Film – als ob er aus lauter Echos gebaut wäre. Wie die Grenzwächter, die zu Beginn mit ihren Schüssen die Flüchtlinge verjagen, die über den Jura aus Deutschland kommen, und später noch einmal, vor den Augen von Arthur Bloch (Bruno Ganz). Oder wie auch diese Worte des jüdischen Viehhändlers: «Wir sind hier in der Schweiz», beschwichtigt er seine verängstigte Frau (Elina Löwensohn), als sie nachts auf der Strasse von zwei Wegelagerern ausgebremst werden. Wie wenig diese Parole des treuen Glaubens wert ist, sehen wir, als der kleine Jacques am Flussufer einen jüdischen Jungen findet, nackt an einen Baum gefesselt. Als Vater Chessex in der Schule die Kinder zur Rede stellt und dabei auf eine Mauer des Schweigens stösst, ruft er aus: «Wir sind doch in der Schweiz hier!» Da klingt die Beruhigungsformel schon wie ein verzweifelter Appell wider besseres Wissen.

Auch die Zerstückelung eines Kadavers hat ein solches Echo im Film. Einmal sieht Jacques auf einem Bauernhof, wie ein geschlachtetes Schwein ausgeweidet wird. Später dann ein zweiter Kadaver: Die Bilder bleiben uns erspart, aber wir hören berstende Knochen. Diesmal ist es der tote Arthur Bloch, der, nackt und kopfüber aufgehängt, von seinen Mördern zerhackt wird wie ein Tier. Es ist eine Barbarei, die sich aus der örtlichen Kultur herleitet, als Exzess der symbolischen Ordnung. Die wissen ja, was sie tun, sie wissen, wie das geht, die «protestantischen Schweinefresser» mit ihren «verschwarteten Gehirnen», wie es bei Chessex heisst.

Der symbolische Mord

Bei Erscheinen des Romans reagiert die Region mit: Anfeindungen, offiziellen Verharmlosungen, allgemeinem Überdruss. Zwar ist es nicht so, dass Chessex, wie der Film suggeriert, unmittelbar daran gestorben wäre (im Film wird er bei einer Lesung wegen seines Romans angegriffen, in Wirklichkeit wurde er wegen seiner Haltung zu Roman Polanski zur Rede gestellt, als er am 9. Oktober 2009 den Herzinfarkt erlitt, an dem er kurz darauf starb). Aber der symbolische Mord, der zuvor an Chessex verübt wurde, war schon obszön genug, und der hat sich so zugetragen, wie es Berger im Film zeigt. Im gespenstischen Taumel der Fasnacht 2009 in Payerne wird der Schriftsteller verspottet als Karikatur des Mahners, der die Vergangenheit nicht ruhen lassen will. Am Umzug fahren zwei überdimensionierte Milchkessel mit, darauf steht geschrieben: «Hier ruht Chessex», mit einem gezackten «SS» in der Mitte.

Die Fasnacht als kollektive nazistische Wunscherfüllung: Möge der lästige Dichter dort enden, wo schon der ermordete Jude landete, an den er uns dauernd erinnert.

Ab 15. September 2016 im Kino. Der Roman von Jacques Chessex ist auf Deutsch bei Nagel & Kimche erschienen. Von WOZ-Autor Hans Stutz ist überdies das Buch «Der Judenmord von Payerne» (2000) im Rotpunktverlag erschienen.

Un Juif pour l’exemple. Regie: Jacob Berger. Schweiz 2016