Freinet-Pädagogik: Erleben, aufschreiben und drucken

Nr. 37 –

Fast unbeachtet unterrichten einige VolksschullehrerInnen noch heute nach den reformpädagogischen Ansätzen des vor fünfzig Jahren verstorbenen Célestin Freinet. Auch im toggenburgischen Krummenau.

Es ist kurz nach acht Uhr an einem gewittrigen Sommermorgen, aus beiden Etagen des kleinen Schulhauses in Krummenau brennt Licht. Das Zimmer der Klasse von Lehrer Andi Honegger – sie vereint Erst-, Zweit- und Drittklässler – befindet sich im oberen Stock. Insgesamt neunzehn Jungen und Mädchen haben sich für den Morgenkreis zusammengesetzt, der Zweitklässler Manuel wird ihn leiten. Nachdem man miteinander, auf Deutsch und Englisch, geklärt hat, welcher Tag ist, wie sich das Wetter präsentiert und ob alle da sind, nimmt Manuel die Stoppuhr zur Hand und bittet seine MitschülerInnen, die Augen zu schliessen. Sie sollen sich während der folgenden Minute überlegen, was sie der Klasse vom Wochenende erzählen könnten. Jonas wird als Erster berichten: «Die Ziegen sind weggelaufen.» Seine KameradInnen wollen wissen: «Wie viele waren es? Wie konnten sie einfach weggehen? Habt ihr sie wieder gefunden?»

Moderne Schule

Mit dem Erzählen im Morgenkreis bringen die Kinder Privates in die Schule mit, erklärt Andi Honegger, der sich hier im ländlichen Toggenburg seit bald dreissig Jahren um Erst- bis Drittklässler kümmert. Honegger ist ein experimentierfreudiger Städter, der auf ausgedehnten Reisen merkte, dass er gut ohne urbanen Rummel leben kann. Mit Herz und Verstand und grenzenloser Leidenschaft unterrichtet er nach den Methoden des Reformpädagogen Célestin Freinet, der das Erziehen zum Selberlernen und Selberdenken in den Mittelpunkt stellte.

Als aktives Mitglied der Freinet-Gruppe Schweiz verbrachte Honegger kürzlich einen Teil seiner Sommerferien in Benin. Dort fand das diesjährige internationale Treffen der Freinet-PädagogInnen statt. Während zehn Tagen arbeiteten Menschen von verschiedenen Kontinenten «wie die Verrückten» zusammen, diskutierten, schrieben, übersetzten, und am Ende verfasste Andi Honegger auch noch Protokolle. Knapp 200 Personen seien am Treffen gewesen, es könnten je nach Austragungsort auch dreimal so viele sein, sagt der Lehrer, der in den letzten zwanzig Jahren keines der Treffen ausgelassen hat. Die internationale Vernetzung, der Austausch sind für die Freinet-Bewegung typisch. In über vierzig Ländern weltweit unterrichten LehrerInnen an öffentlichen Schulen nach der Freinet-Methode. Ihren Namen hat die pädagogische Bewegung, die auch eine politische ist, von Célestin Freinet. Meist nennt sie sich auch «École Moderne».

Freinet, im Oktober vor 120 Jahren geboren, trat als 24-Jähriger seine erste Stelle als Primarlehrer in einem kleinen Bergdorf in der Provence an. Ein Spielfilm über den Pädagogen zeigt, wie er desinteressierte Kinder antrifft, lernmüde und mürbe gemacht von einer autoritären, nicht kindorientierten Pädagogik – und wie es ihm gelingt, in den Kindern ihre Neugierde und Lust aufs Entdecken und Lernen wieder zu wecken. Der Film heisst «L’École buissonnière», übersetzt etwa «Die Busch-Schule», und gemeint ist das Rausgehen mit den Kindern – in die Natur, die nähere Umgebung, den Alltag. Das sollte zu einem der Grundpfeiler «freinetischer» Pädagogik werden: das Sich-und-die-Welt-selber-entdecken-Lassen. Man sagt, die erste Technik, die Freinet in der Schule ausprobiert habe, sei der Spaziergang gewesen. Der Filmtitel sei aber auch eine ironische Anspielung, sagt Peter Steiger, Aktiver in der Freinet-Bewegung: «Faire l’école buissonnière» bedeute auch «die Schule schwänzen».

Der erst kürzlich pensionierte Lehrer befasst sich schon lange intensiv mit der Freinet-Pädagogik – ein nicht ganz einfaches Unterfangen, denn Célestin Freinet pflegte zwar den Austausch mit anderen ReformpädagogInnen und war ein engagierter Botschafter seiner Ideen (und derer seiner Frau Élise, die mit ihm an der Entwicklung der Freinet-Pädagogik arbeitete), aber Schulbücher hinterliess er keine. Bewusst nicht. Er wollte die Kinder in Bewegung bringen. Steiger: «Man ging also raus, schaute und lauschte. Hörte vielleicht, wie es hinter einer Ecke klopfte – aha, ein Schreiner. Aha, da entsteht ein Stuhl. Zurück ins Klassenzimmer. Da wird nicht das Schulbuch zu irgendeinem Thema auf Seite 23 aufgeschlagen, sondern über das Gesehene gesprochen, es werden Texte geschrieben, die gedruckt oder handgeschrieben Teil einer eigenen Dokumentation werden. Und das immer wieder. Denn in Freinet-Klassen schreiben die Kinder – und dann setzen und drucken sie.»

Lesen als Moment der Lust

Andi Honegger und weitere Freinet-LehrerInnen aus der Schweiz, Österreich und Deutschland geben zusammen in Kleinstauflage die gedruckte «Kinderwelt» heraus mit «freien Texten» und Illustrationen aus ihren Klassen. Die SchülerInnen wählen selber gemeinsam aus, welche Werke in die aktuelle «Kinderwelt» aufgenommen werden. Nummer 107 erschien im Mai dieses Jahres. Einer der Beiträge aus Honeggers Klasse lautet «Die Regionalschau». Jonas mit den Ziegen, da war er noch in der ersten Klasse, schrieb: «Ich bringe eine Ziege. Sie ist braun. Sie heisst Ramona. Sie wird Achte. Dann haben wir Hunger. Wir bekommen eine Glocke. Dann gehen wir nach Hause. Ich bin glücklich.» Dazu eine Strichzeichnung, die ihn mit der Geiss an einem sonnigen Tag unter blauem Himmel zeigt.

Es sind diese Tiere auf dem Hof seiner Eltern, die den Siebenjährigen am stärksten beschäftigen. Über diese, seine Welt, lernt er schreiben und lesen: Eine Tabelle, die Bilder und Buchstaben einander zuordnet, hilft ihm dabei. Weil er weiss, dass der Text von den anderen Kindern gelesen werden wird, ist ihm wichtig, dass er korrekt schreibt. Dasselbe gilt für die Kinder, die die ausgewählten Texte schliesslich setzen. Und wenn am Ende das Büchlein gedruckt vor ihnen liegt, mit den Beiträgen aus den anderen Klassen, und sich die SchülerInnen darauf stürzen, weil sie wissen wollen, was die anderen geschrieben haben, ist das Lesen(lernen) ein Moment der Lust, der Neugierde und des Verstehenwollens. Andi Honegger sammelt alle «Kinderwelten» und Spezialdrucke, und es kommen monatliche SchülerInnenzeitungen dazu. Es ist ein riesiger Fundus an kindlichem Ausdruck, der in diesem Schulhaus in Krummenau lagert.

Selbstständig auf Entdeckungsreise

Dass Kinder wiss- und lernbegierig sind und aufsaugen, was sich ihnen bietet – darauf basiert die kindzentrierte und ressourcenorientierte Pädagogik. Freinet will ihnen darin möglichst viel Freiheit geben, sie nicht bevormunden. Die Kinder sollen selbstständig auf Entdeckungsreise gehen. Es ist ein forschendes Lernen, das die Emanzipation der Kinder fördert. Man gibt und lässt ihnen sozusagen das Wort. Zu diesem Zweck hat Freinet auch den Klassenrat entwickelt, den in den letzten Jahren viele LehrerInnen übernommen haben und der etwa im Kanton Zürich sogar obligatorisch ist – aber ob er überall so bewusst umgesetzt wird wie in den Freinet-Klassen?

An der Innenseite der Schulzimmertüre in Krummenau hängen die Protokolle der ersten beiden Klassenratssitzungen. Sie finden immer freitagmorgens statt, alle SchülerInnen nehmen daran teil. In der allerersten – nach den Sommerferien kamen die neuen ErstklässlerInnen – erklärte Andi Honegger zunächst einmal, was dieser Austausch soll: «Im Klassenrat regeln wir unser Zusammenleben und -arbeiten in der Schule. Da kann gelobt und kritisiert werden. Da können auch Wünsche geäussert und Sachen neu eingeführt werden.» Dann fand die Klasse diskutierend heraus, wie man überhaupt entscheiden will, nämlich weder im Mehrheitsentscheid noch per Los, sondern im Konsens. Auch wurden die Verantwortlichen des Klassenrats gewählt: Liva und Nadine leiten, Daniela ist für die Wortzuteilung zuständig.

Der Klassenrat sei das Herz einer Freinet-Klasse, sagt Honegger, «hier geht es um echte Partizipation. Die Kinder lernen, dass sie mitreden und Sachen beeinflussen können.» Dass die basisdemokratische Versammlung nicht zur Alibiübung verkommt, ist ihm wichtig: «Die Kinderrechte der Uno verlangen ja ausdrücklich eine Mitsprache der Kinder in Belangen, die sie direkt betreffen.»

Donatus Stemmle, eigentlich pensioniert, ist Freinet-Mitglied und teilzeitlich noch immer Dozent an der Pädagogischen Hochschule Zürich. Er sagt: «Die Didaktik an den öffentlichen Schulen hat von Freinet vieles übernommen – die politische Bildung und die real gelebte Demokratie, und selbst das Nahe-am-Kind-Sein: das Orientieren an seinen individuellen Fähigkeiten, seinem Tempo, das Anknüpfen an seinem Vorwissen und dass man es darin unterstützt, auf seinem ganz persönlichen Weg weiterzugehen.» Dem gegenüber stehe dann allerdings das normierende Beurteilungssystem. «Und der Umstand, dass das Anwenden von Methoden, weil man muss oder weil diese gerade populär sind, oft technisch wirkt.» Die Individualität der Kinder ernst nehmen ist ein Pfeiler freinetscher Philosophie. Sie ins Zentrum des Unterrichts zu stellen, braucht aber Vertrauen – von den Lehrpersonen, der Schulleitung, den KollegInnen und von den Eltern. In Krummenau hat Andi Honegger seinen Unterricht über die vielen Jahre Schritt für Schritt mehr nach Freinet ausgerichtet. 2003 nahm er freiwillig an einer deutschschweizweiten «Best Practice»-Studie teil, bei der das Kompetenzzentrum für Bildungsevaluation der Universität Zürich den Unterrichtserfolg einzelner LehrerInnen (und ihrer Methoden) in Mathematik und Deutsch mass. Honeggers Klasse ragte heraus. Er führte das damals auch auf die Selbstverantwortung und Disziplin zurück, mit denen in seiner Klasse gearbeitet wird. Es ist vielleicht seine Kontinuität auf hohem Niveau, die bewirkt, dass die Eltern seiner SchülerInnen gar nicht genauer wissen wollen, was das für eine Methodik ist, die er anwendet. Honegger: «Die Eltern bekommen mit, wie ich unterrichte, und sind zufrieden, aber sie wissen nicht, was Freinet ist.»

Nur Eingeweihte kennen Freinet

Honegger und seine Freinet-KollegInnen finden Motivation, Inspiration und Rückhalt vor allem unter ihresgleichen, bei den regelmässigen Treffen des Vereins, auf lokaler, nationaler oder eben sogar internationaler Ebene. Anders wäre diese ressourcenorientierte Pädagogik in der Schweiz vielleicht bereits wieder verschwunden, denn an den pädagogischen Hochschulen wird sie kaum gelehrt, und es gibt auch keine vom Verein aus regelmässig organisierten Weiterbildungskurse mehr. Werbung macht Freinet fast keine in eigener Sache, man sei ja schliesslich keine Privatschule.

Das hat freilich zur Folge, dass ausser Eingeweihten heutzutage kaum jemand Freinet noch kennt. Die deutsche Pädagogikprofessorin Ingrid Dietrich spricht von einem «Häuflein von Aufrechten und irgendwie Eingeweihten». Ein Grund dafür ist sicher, dass viele Lehrerinnen und Lehrer ausserhalb ihrer Arbeit kaum Zeit finden, sich mit anderen pädagogischen Ansätzen zu befassen. Und ein weiterer, dass es den Freinet-Mitgliedern wohl eher etwas widerstrebt, für ihre Sache zu missionieren.