Ein Laptop für jedes Kind: Für 188 Dollar das gesammelte Weltwissen in der Schulmappe
Ein Laptop sei der Schlüssel zur Bildung und zur persönlichen Entwicklung, sind die Leute von der Stiftung One Laptop Per Child überzeugt. Sie hat bereits Hunderttausende SchülerInnen in Ländern wie Peru, Uruguay und Ruanda mit ihren günstigen Geräten ausgerüstet. Doch die Erfahrungen sind nicht überwältigend.
Nicholas Negroponte ist ein Mann mit grossen Visionen: Anfang 2005 verkündete der Wissenschaftler des Massachusetts Institute of Technology am Weltwirtschaftsforum in Davos, in nur wenigen Monaten den Prototyp eines Laptops für Kinder vorzustellen, der gerade mal 100 US-Dollar kosten soll. In nur wenigen Jahren sollten in Ländern wie Brasilien, China, Südafrika und Thailand bereits über hundert Millionen dieser Laptops völlig gratis an Schulkinder verteilt sein, um deren Bildungschancen zu erhöhen.
Negroponte zeigte sich überzeugt, auf diese Weise die Welt dramatisch verändern zu können. Hätten die Kinder erst einmal einen Laptop in den Händen, würden sie ganz von alleine daran arbeiten. Sie würden Englisch lernen, sich mit dem Weltwissen auf dem Internet vertraut machen und ihr Können im Umgang mit dem technischen Gerät auch ihren KollegInnen und Eltern beibringen.
800 000 Stück in Peru
Doch ganz so schnell hat Nicholas Negroponte seine Ziele nicht verwirklicht: Laut der von ihm präsidierten Stiftung One Laptop Per Child (OLPC) sind inzwischen erst 2,4 Millionen Laptops der Eigenmarke XO ausgeliefert worden, zu einem Preis von derzeit 188 US-Dollar pro Stück. Auf der Website der Hilfsorganisation werden die Erfahrungen mit den XO-Laptops in den höchsten Tönen beschrieben. Unabhängige Studien kommen allerdings zu weitaus skeptischeren Schlüssen über den Nutzen des Laptopeinsatzes in den entsprechenden Klassenzimmern.
Kürzlich hat die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) eine Studie über die Erfahrungen in Peru veröffentlicht. Kein Land hat bislang mehr der XO-Laptops an seine Schulkinder verteilt als der südamerikanische Staat: 800 000 Stück in fünf Jahren. Das kostete die Regierung rund 200 Millionen US-Dollar, eingerechnet die Ausgaben für Infrastruktur, Software und LehrerInnenfortbildung.
Doch die Resultate sind gemäss IDB ernüchternd: In den 319 für die Studie untersuchten Schulen haben die Kinder weder bessere Mathematik- noch bessere Sprachkenntnisse erworben als ihre KameradInnen aus Schulen ohne Laptop, noch ist die Qualität des Unterrichts gesteigert worden. Die XO-Laptops vermochten die Kinder auch nicht zu mehr Hausaufgaben zu motivieren. Dafür erreichten sie allerdings bessere Leistungen im abstrakten Denken und verarbeiteten schneller Informationen als Kinder ohne Laptop.
Und wenn er gestohlen wird?
Die Situation in vielen der untersuchten peruanischen Schulen zeigt, dass es mit dem Verteilen der Computer nicht getan ist. Oft fehlte in den Klassenzimmern ein Stromanschluss. Auch waren viele LehrerInnen in abgelegenen Dörfern mit den Computern überfordert. Eine Weiterbildung zum Einsatz der XO-Laptops hatten sie nie erhalten. Fehlerhafte Software sorgte für zusätzliche Frustration, fehlende Internetanschlüsse in vielen Dörfern und Schulen verunmöglichten es, Updates herunterzuladen.
Problematisch ist gemäss der IDB-Studie ebenfalls, dass der 188-Dollar-Laptop in einem armen Dorf ein im Verhältnis zum Einkommen der Bevölkerung extrem teures Gerät ist. So weigerten sich viele LehrerInnen, die Geräte ihren SchülerInnen mit nach Hause zu geben, aus Angst, sie könnten kaputtgehen. Andererseits verbot rund ein Viertel der Eltern ihren Kindern, den Laptop nach Hause zu nehmen. Viele fürchteten, er könnte gestohlen werden, und sie müssten dann dafür haften.
Grundsätzlicher ist die Kritik am OLPC-Projekt, die zum Beispiel Mark Warschauer äussert, Professor für Erziehungswissenschaft und Experte für digitales Lernen an der Universität von Kalifornien. In einem Artikel für das «Journal of International Affairs» schrieb er zusammen mit der Wissenschaftlerin Morgan Ames, das Projekt OLPC stehe für «eine lange Liste von utopischen Entwicklungsvorstellungen, die komplexe soziale Probleme mit simplen Lösungen aus der Welt schaffen wollen». Würden die Gelder für die OLPC-Programme für etwas anderes eingesetzt – etwa die Errichtung von Schulhäusern oder die Einstellung von mehr LehrerInnen –, so wären die Effekte wohl höher.
Mark Warschauer und Morgan Ames schätzen die Kosten pro Kind für einen XO-Laptop und die nötige Infrastruktur auf 263 US-Dollar. Ruanda zum Beispiel gebe jährlich aber nur gerade 109 Dollar pro Kind für die Schulbildung aus. Zudem gäbe es andere, kostengünstigere Mittel, Kinder zu Bildung zu verhelfen. So habe in Kenia ein Projekt zur Entwurmung aller Kinder, das nur einen halben Dollar pro Kind kostete, die Beteiligung am Schulbesuch um vierzehn Prozent erhöht. Es gelte in jedem Land genau zu untersuchen, welcher Ansatz zur Verbesserung der Schulbildung sinnvoll sei. Negroponte habe dagegen eine «naive und technologielastige Sicht».
Uruguay als Vorbild
Die Stiftung OLPC kann auf der ganzen Welt auf UnterstützerInnen zählen. Die Idee, mit einem Laptop die Lernautonomie zu erhöhen, fasziniert gerade in den westlichen Staaten viele. Einer von ihnen ist Christoph Derndorfer, Vorsitzender des österreichischen OLPC-Vereins. Derndorfer räumt ein, dass in Peru «gröbere Fehler» gemacht worden sind. Dennoch ist er vom OLPC-Ansatz nach wie vor überzeugt: «Kinder, die heute eingeschult werden, müssen doch nach ihrer Schulzeit einfach mit Computern umgehen können. Das wird so nötig sein wie Lesen und Schreiben. Das wird auf der ganzen Welt zur Minimalanforderung.»
Derndorfer verweist auf Uruguay: Das Land hat flächendeckend XO-Laptops an alle SchülerInnen verteilt. Allerdings ist Uruguay nicht mit Peru zu vergleichen. Abgelegene, kaum zugängliche Gebiete wie in Peru gibt es in Uruguay nicht. Das Land ist viel kleiner und wohlhabender. Uruguay hat sehr viel Geld in die Infrastruktur für die Laptops investiert. In fast allen Schulen, aber auch in Gemeinschaftszentren und Jugendhäusern gibt es inzwischen Internetzugang. Für die Fortbildung der LehrerInnen sei zudem eigens ein TV-Kanal aufgeschaltet worden, sagt Derndorfer. Dort würden Informationssendungen zur Anwendung der Laptops laufen.
Dennoch gab es auch in Uruguay Rückschläge. Ein Jahr nach der Einführung waren bereits 14,3 Prozent der XO-Computer vollkommen defekt und 13,2 Prozent entweder in Reparatur oder aus anderen Gründen zeitweise unbenutzbar. Inzwischen habe man mobile Reparaturteams eingerichtet und informiere die Eltern besser über die Handhabung der Geräte, so Derndorfer.
XOs nichts für die Schweiz
Beat Döbeli Honegger ist Professor an der Pädagogischen Hochschule Schwyz und ein Experte in der Anwendung von Computertechnologie im Schulzimmer. Auch er befürwortet die Anwendung der XOs, er sitzt im Vorstand der Schweizer OLPC-Gruppe. Für den XO-Einsatz in der Schweiz sei der Zug allerdings bereits abgefahren: «Viele Sechstklässler verfügen heute bereits über Geräte, die wesentlich leistungsfähiger sind.»
In seiner Funktion als Professor leitet Döbeli Honegger Projekte an Volksschulen, bei denen den Kindern Handys, iPads oder iPods abgegeben werden. Letztlich geht es dabei um ähnliche Ziele wie beim OLPC-Projekt: Die SchülerInnen sollen die Geräte als Werkzeuge nutzen, um in Wikipedia etwas nachzuschlagen, eine Fotografie zu machen oder mit einem speziellen Programm Vokabeln zu büffeln.
Die grundsätzliche Kritik von Warschauer und Ames am Einsatz solcher Geräte kann Beat Döbeli Honegger durchaus nachvollziehen: Warschauer und Ames argumentieren, dass die Computer von den sowieso schon Privilegierten besonders kreativ genutzt werden, während die am meisten marginalisierten SchülerInnen das Potenzial der Geräte nicht im gleichen Umfang zu nutzen wissen. «Mit dem Einsatz von Computern öffnet sich die Schere zwischen guten und schlechten SchülerInnen», räumt Döbeli Honegger ein, gibt aber zu bedenken: «Die Schule muss auch für die Schlauen da sein. Wenn Schlaue schlauer werden, dann ist das gut so.»
Beat Döbeli Honegger verweist auf einen weiteren Vorteil: «Ein Lehrer kann nicht gleichzeitig auf zwanzig Schüler eingehen. Mit den Computern können die einen still arbeiten, während der Lehrer den anderen Schülern etwas erklärt.» Ausserdem gibt sich Döbeli Honegger überzeugt, dass der Einsatz der Computer auch medienpädagogisch wertvoll ist: «Die Kinder merken, dass die Geräte nicht nur zum Spielen da sind.» Er vergleicht den Einzug des Computers ins Schulzimmer mit dem Aufkommen der Taschenrechner – heute sei es «nur viel krasser». Die LehrerInnen müssten sich fragen, was für Inhalte sie denn noch vermitteln, was die Kinder denn noch auswendig lernen sollen, wenn «jedes Kind Wikipedia und Google im Hosensack hat».
Helikopteransatz ist gescheitert
Für Mark Warschauer und Morgan Ames ist klar: Die Bildung zu verbessern, erfordert je nach Ort und sozialer Situation eine jeweils andere Vorgehensweise. Der Einsatz von Computern muss wohlüberlegt sein. Die Geräte lassen sich, anders als Negroponte glaubt, nicht einfach per Helikopter flächendeckend an die Kinder verteilen – in der Hoffnung, diese würden dann auch ohne fremde Hilfe herausfinden, wie sie damit lernen könnten.
Die Realität hat den beiden WissenschaftlerInnen recht gegeben: So sind 2008 in der US-Stadt Birmingham 15 000 XO-Laptops an die Schulkinder verteilt worden. Beim Start der Aktion hatte der Bürgermeister Larry Langford voller Überzeugung im Sinne Negropontes verkündet: «Wenn wir ihnen die XOs geben und sie dann machen lassen, werden sie uns über die Welt unterrichten.» Zwei Jahre später musste der Versuch abgebrochen werden: Viele Laptops waren schnell kaputtgegangen. Mehr noch: Im Durchschnitt verwendeten die Kinder für Hausarbeiten und neues Lernen weniger Zeit als vorher. Dafür stieg ihre Präsenz in Onlinechatrooms dramatisch an.
Unesco-Studie
Lernen per Handy
Die Unesco will das mobile Lernen fördern. In der vom Mobiltelefonhersteller Nokia gesponserten Serie von PDF-Dokumentationen «Turning on mobile learning» stellt die Uno-Organisation Pilotprojekte in der ganzen Welt vor und gibt sich überzeugt, dass Handys denjenigen helfen können, die sonst kaum Zugang zu guter Schulbildung hätten. Es sei falsch, dass Mobiltelefone oft von den Schulen verbannt würden. Vielmehr müsse es darum gehen, diese Geräte verantwortungsvoll einzusetzen.
Als Beispiel, wie Handys zu besserer Lese- und Schreibkompetenz führen können, wird ein Projekt in Pakistan vorgestellt, wo nur gerade vierzig Prozent der Frauen lesen und schreiben können. In der Provinz Pandschab hat die Unesco an 120 junge Frauen Mobiltelefone verteilt. Nach einem Einführungskurs erhalten die Frauen seither täglich Fragen per SMS. Diese Fragen übertragen sie einerseits in ein Heft und antworten andererseits per SMS darauf. Die Unesco schreibt, dass die Teilnehmerinnen mit diesem einfachen und günstigen Vorgehen inzwischen viel besser lesen und schreiben gelernt hätten.
Laut der Unesco sind weltweit inzwischen 5,9 Milliarden Handys im Umlauf. Selbst in Afrika verfüge die Mehrheit der BewohnerInnen über ein Mobiltelefon. Mit SMS könnten sehr günstig Bildungsprojekte gestartet werden. In Ghana würden zum Beispiel von der staatlichen Kakaovermarktungsgesellschaft Tausende von KakaolandwirtInnen auf neue Anbaumethoden aufmerksam gemacht und über den richtigen Umgang mit Schädlingen informiert. Im Senegal werde per SMS die lokale Sprache Wolof lesen und schreiben geübt. Die Unesco-Serie ist voll solcher Beispiele aus aller Welt.
Allerdings, schränkt die Unesco selbst ein, ist auch bei den Handys die Ungleichheit nach wie vor gross: Während im Westen inzwischen Smartphones dominieren, mit denen auch ein relativ schneller Zugriff aufs Internet möglich ist, sind etwa in Afrika meist nur einfache Modelle verbreitet. Zudem zahle jemand in Afrika durchschnittlich 17 Prozent seines Monatseinkommens für Handygebühren, in reicheren Ländern seien es gerade mal 1,5 Prozent.