Jan Gassmann: «Wir schnitten achtzig Prozent Sex raus»
Liebe an den Rändern: Jan Gassmann über seinen Dokumentarfilm «Europe, She Loves» – und über die heiklen Momente, wenn das Private zu privat wird.
WOZ: Jan Gassmann, was hat es eigentlich mit diesem Titel auf sich: «Europe, She Loves»?
Jan Gassmann: Der war von allem Anfang an da. Ich habe mir das schon hergeleitet, mit Europa als griechischer Sagenfigur, wobei man da sofort in den Clinch kommt: Wurde sie von Zeus vergewaltigt? Dazu gibt es ja verschiedene Überlieferungen. Bei der Arbeit am Film hat sich der Fokus dann immer stärker auf die Frauen gerichtet, so war der Titel letztlich eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Aber es wurde mir zum Teil auch nahegelegt, ihn zu ändern, weil sich «Europa» halt so schlecht verkaufe.
Im Ernst?
Ja, die Leute vom Weltvertrieb hätten lieber so etwas wie «C’est l’amour» gehabt.
Dass die Frauen mehr in den Fokus rückten: War das Ihre Entscheidung als Regisseur, oder lässt sich daraus so etwas wie eine gesellschaftliche Diagnose ableiten?
Ich glaube, es hat stark damit zu tun, dass Frauen in Krisen ganz anders reagieren als Männer. Jedenfalls habe ich das bei allen Paaren beobachtet, mit denen wir drehten – und auch bei anderen, die wir beim Casting kennengelernt hatten: In schwierigen Situationen scheint der Mann paralysiert und steht still. Die Frau dagegen versucht viel eher, da oder dort noch einen Weg zu finden.
Europa geistert heute vor allem als bürokratischer Moloch, als kriselndes Friedensprojekt oder als Festung durch die Medien. Wieso nun ausgerechnet ein Kontinent der Liebe?
Beim Dreh haben wir immer gewitzelt: «Okay, nächstes Jahr machen wir ‹Asia, She Loves›, danach kommt ‹America, She Loves›.» Die Idee lässt sich natürlich nicht allein auf Europa anwenden. Entscheidend war für mich ein Begriff aus einem Roman von Kurt Vonnegut: Da ist die Rede von der «nation of two», die es zu beschützen gelte. Das fand ich interessant. Wenn es eine solche «nation of two» gibt: Was bedeutet das, was wird in dieser Nation verhandelt? Auf diesem Weg bin ich auf die Zweierbeziehungen in meinem Film gekommen. Und warum Europa? Ich bin nun mal Europäer. Ich würde mir nicht zutrauen, das in Indien zu drehen.
Die vier Zweiernationen könnten vielfältiger sein: Warum sind es lauter Heteropaare?
Ich habe in alle Richtungen gecastet. Zum Beispiel hatte ich ein superinteressantes Pärchen in Tallinn, das völlig vertauschte Rollen lebt: er als Frau, sie als Mann. Bei denen hat es aber terminlich nicht geklappt. Und es war beim Casting leider so, dass die homosexuellen Pärchen teils noch um einiges konservativer waren als heterosexuelle. Zumindest hatte ich bei denen einfach nicht das Gefühl, dass ich mit ihnen einen Film würde drehen können.
Warum war es Ihnen so wichtig, die Paare auch beim Sex zu filmen? Warum ist das so zentral?
Zentral ist es nicht. Aber es war von Anfang an klar, dass ich das wollte, das stand auch so auf dem Flyer, den wir fürs Casting verteilten. Und die Tatsache, dass die Paare bereit waren, sich beim Sex filmen zu lassen, hat auch in den Gesprächen unglaublich viel möglich gemacht. Der Körper ist etwas, was man sehr beschützt. Sobald man diese Grenze anders setzt, werden auch Szenen möglich, die wahrscheinlich mehr berühren als solche, in denen man die Leute nackt sieht. Für mich sind die Sexszenen nicht zentral in dem Sinn, dass dort emotional am meisten passiert. Ich habe vielmehr versucht, sie als alltägliches Element einzusetzen. Und gegenüber der ersten Schnittfassung haben wir den Sex sicher um achtzig Prozent reduziert. (Lacht.)
Gab es auch Momente, in denen Sie selber fanden: Hier hört die Kunst auf, das ist nur noch Voyeurismus?
Voyeurismus ist vielleicht das falsche Wort. Aber die Verantwortung spielt sicher mit. Wie in jenem Moment, als uns bewusst wurde, dass das Paar in Dublin einen Rückfall in die Drogensucht hatte. Sie versuchten, das vor uns zu verstecken. Da kommt man natürlich in einen Clinch.
Die grosse Politik erscheint im Film wie Hintergrundrauschen für diese privaten Zweierkisten. Für wie politisch halten Sie Ihren Film?
Politik ist ja omnipräsent in unserem Leben, gleichzeitig schliessen wir sie die ganze Zeit aus. Der Film hat schon den Anspruch, Politik ins Gespräch zu bringen. Ich habe beim Schnitt auch versucht, politisch in die Tiefe zu gehen, mit Schuldenschnitt und allem … Doch da war es plötzlich so, als würde jemand Gottähnliches diese Menschen für irgendeine konstruierte Geschichte instrumentalisieren. Ich musste also zurück zu etwas Abstrakterem, um ihnen gerecht zu werden. Klar hätte ich manchmal gerne eine Aussage mehr drin gehabt, die meine Sicht eingebracht hätte. An einer oder zwei Stellen, die mir wichtig sind, konnte ich das zumindest ein bisschen einblenden.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel mit dem Satz, dass wir vielleicht eines Tages aufwachen und merken, dass wir zwar ein vereintes Europa haben, aber nicht genug Europäer. Gleichzeitig wollte ich das nicht als letztes Wort im Film haben: am Schluss eine schöne Kamerafahrt, und dann spricht jemand noch die Message. Aber ich werde schon immer wieder gefragt, ob diese Leute denn nie über Politik geredet hätten.
Und? Haben sie?
Klar, und natürlich hat mich das auch interessiert. Aber wenn man sie im Film dann über Politik reden hört, hat das einen merkwürdigen Effekt, so als redeten Experten über ihre eigene Situation. Da fängt man als Zuschauer sofort an, über die Figuren zu urteilen: Wissen die wirklich alles über ihre Situation, sind sie schlau genug, wie intellektuell sind sie? Für den Film hat das einfach nichts gebracht. Ich glaube, dass das Gefühl, das der Film transportiert, stärker ist als jede Analyse, die er hätte leisten können.
Zum Abspann hören wir Kate Tempest mit «Europe Is Lost». Klingt desillusioniert.
Nein, es ist ein wütender Track, aber da ist keine aggressive Wut: Der Track ist nicht auf Zerstörung aus, er ist vielmehr ein Aufruf.
Also: Europa ist zwar verloren, aber es darf nicht auseinanderfallen?
Ja. Darin steckt eine Melancholie, die auf mich nicht einfach deprimierend wirkt. Auch die Menschen im Film empfinde ich nicht als traurig, ich habe nie Mitleid mit ihnen. Eigentlich sind sie sehr agil. Und im Unterschied zu uns in der Schweiz bringen sie definitiv einige Überlebensskills mit, wenn es darum geht, aus dem Nichts noch etwas weiterzuexistieren.
«Europe, She Loves»
Dublin, Sevilla, Tallinn, Thessaloniki: Vier junge Paare an Europas Rändern hat Jan Gassmann («Chrigu») jeweils zehn Tage lang mit der Kamera begleitet. Gedreht vor drei Jahren, ist daraus ein wuchtiges Mosaik der Liebe in Zeiten der Austerität entstanden. Die einen kämpfen um einen Studienplatz, die anderen gegen Langeweile und den Rückfall in die Drogen.
Eine politische Vision hat dieser Film nicht parat, und trotzdem entsteht hier so etwas wie eine Europäische Union: nicht aus einem Programm, das den Menschen übergestülpt würde, sondern in der fulminanten Montage der Lebenswelten.
Ab 29. September 2016 im Kino.