Berlinale: Lieben und Sterben im Hotel Europa
Die Union entsteht aus dem Ästhetischen: Die 66. Filmfestspiele in Berlin beschreiben den brüchigen Kontinent von seinen Rändern her. In «Mort à Sarajevo» von Danis Tanovic steht das Hotel Europa vor dem Kollaps, Jan Gassmann zeigt in «Europe, She Loves» ein Mosaik der Liebe in Zeiten der Austerität.
Ach, Europa. Was willst du, wer bist du überhaupt? Ein zerbrechliches Gebilde der Einheit im Verschiedenen, ein bürokratisches Ungetüm. Ein Traum vom Frieden, stets darauf bedacht, dass die Kriege anderswo geführt werden. Ein real existierendes Hirngespinst, eine chronische Patientin, die immer wieder rückfällig wird, oder eben auch: ein Luxushotel kurz vor dem Konkurs. So konnte man das sehen, im Wettbewerb der Berlinale.
Im neuen Film «Mort à Sarajevo» von Danis Tanovic («No Man’s Land») steht dieses moribunde Hotel Europa in Sarajevo. Dort also, wo im Jahr 1914 das europäische Jahrhundert des Schreckens seinen Anfang nahm, als Gavrilo Princip den habsburgischen Thronfolger Franz Ferdinand erschoss und so die Zündung für den Ersten Weltkrieg besorgte. Und wo es achtzig Jahre später seinen grausigen Abschluss fand, im Massaker von Srebrenica. Klammer geschlossen?
Arbeitskampf in den Katakomben
In diesem Hotel ist jetzt wichtiger Besuch angekündigt: Hundert Jahre nach den Schüssen auf Franz Ferdinand soll ein Ehrengast aus Frankreich zur offiziellen Jubiläumsfeier eine Rede auf Europa halten. Schlechtes Timing – nicht nur ist dem designierten Redner der Glaube an die europäische Idee abhanden gekommen, auch das Hotel im Film «Mort à Sarajevo» steht vor dem Kollaps. Der Manager kann seit Monaten die Löhne nicht mehr zahlen, das Personal droht mit Streik.
Das Hotel als Schauplatz, der Jubiläumsredner in seiner Suite: Das hat Danis Tanovic aus «Hôtel Europe» übernommen, einem Bühnenstück des philosophischen Selbstvermarkters Bernard-Henri Lévy. «Lose inspiriert von (…)» heisst es im Abspann des Films, aber das darf man getrost schärfer formulieren. Der bosnische Regisseur hat das Stück entrümpelt und den Monolog zu einer bitterbösen, vielstimmigen Parabel ausgebaut.
Der Festredner, der beim Selbstgespräch hinter geschlossenen Vorhängen über das Scheitern Europas schwadroniert, ist bei Tanovic nur noch eine lächerliche Randfigur. Und die Stadt Sarajevo dient im Film nicht einfach als symbolischer Ort, an dem der hohe Gast aus dem Westen seine paternalistischen Gedanken wie Girlanden aufhängen kann.
Tanovic fächert in diesem Hotel einen ganzen politischen Kosmos auf – von den einfachen Angestellten, die sich in den Katakomben für den Arbeitskampf organisieren, bis hinauf aufs Dach, wo eine TV-Journalistin gerade eine Livesendung zu den Jubiläumsfeiern produziert, mit Experten, die in horrendem Tempo das Attentat historisch ausleuchten. Wer aber ist dieser junge Mann, der sich vor der Kamera als Gavrilo Princip vorstellt? Wenn er wirklich Gavrilo Princip ist: Auf wen müsste er heute schiessen? Und wäre er dann Held oder Terrorist?
So steht in diesem allegorischen Hotel immer alles auf dem Spiel: die bosnische wie die europäische Geschichte, die Deutungshoheit über die Vergangenheit wie die politische Gegenwart. Alles ein bisschen schematisch, ja, aber furios. Am Ende fallen tatsächlich Schüsse, das Hotel Europa wird geräumt, und übrig bleibt die Lobby im Bild einer Überwachungskamera, menschenleer.
Elende Langweile, prekärer Sex
Oh, Europa. Was treibst du so? Das treibt auch den Bewohner eines europäischen Inselstaats um: den Schweizer Regisseur Jan Gassmann. Zuletzt hat er die Schweiz mit einer Monsterwolke behelligt, als einer der Initianten des Films «Heimatland». Jetzt ist er zurück an der Berlinale, schon zum dritten Mal nach «Chrigu» und «Off Beat». Für seinen Dokumentarfilm «Europe, She Loves» suchte Gassmann junge Liebende an den Rändern des Kontinents: in Tallinn und Sevilla, in Dublin und Thessaloniki. Drei Monate lang war er mit seinem Kameramann Ramòn Giger unterwegs, in jeder der vier Städte begleiteten sie zehn Tage lang filmisch ein Paar.
Manche haben schon Kinder, andere wollen keine. Manche warten vergeblich auf einen Studienplatz, andere versumpfen in der elendiglichsten Langeweile. Manche rauchen Gras, andere Heroin. Und weil Gassmann bis ins Intimste vordringen will, sehen wir die Paare immer wieder auch beim Sex, der manchmal so prekär ist wie die Existenzen, die er eint. (Ja, es sind lauter Heteros, womit sich der Regisseur nach der Premiere gleich schon kritische Fragen eingehandelt hat. Seine Replik, dass sein letzter Film «Off Beat» ja von einem schwulen Rapper gehandelt habe, half da nur bedingt.)
Entstanden ist jedenfalls ein zersplittertes Mosaik der Liebe in Zeiten der Austerität. Die grosse Politik geistert nur als Hintergrundrauschen durch diesen Film, in knisternden Redeschnipseln aus Radio und Fernsehen. Eine politische Vision sucht man also vergebens, aber wir sind hier schliesslich im Kino, das ist kein Leitartikel. Die Verknüpfung entsteht in «Europe, She Loves» nicht aus einem Programm, das den Menschen übergestülpt wird, sondern in der Montage der Lebenswelten – eine Europäische Union im Ästhetischen, das ist eigentlich politisch genug.
Nochmals am äussersten Rand von Europa, auf einer Insel, die an vorderster Front zur Chiffre des Flüchtlingselends geworden ist: Das ist «Fuocoammare» (ebenfalls im Wettbewerb), Gianfranco Rosis gefeierter Dokumentarfilm über Leben und Sterben auf Lampedusa. Sein Prinzip ist die Gegenüberstellung von Normalität und Katastrophe. Ein Bub, Sohn eines Fischers, streift über die Insel, spielt mit seiner Steinschleuder, schlürft Spaghetti – vom Elend, das sich praktisch vor seiner Haustür abspielt, hören wir nur aus dem Radio.
Gegen das Porträt dieses Jungen, und von diesem völlig abgekoppelt, schneidet Rosi das Schicksal der Flüchtlinge: von Funksprüchen, Bergungen, einem Fussballspiel in einem Flüchtlingslager bis hin zu grausigen Bildern von Leichen, die sich im Laderaum eines Kutters stapeln. Es sind Szenen, wie man sie so eben nicht aus den Nachrichten kennt.
Allerdings muss sich Rosi auch die Frage gefallen lassen, was er mit seiner strikten Gegenüberstellung bezweckt. Warum ist es ihm so wichtig zu zeigen, dass sich diese Welten nicht begegnen? Dass es noch ein anderes, gewissermassen unbeflecktes Lampedusa gibt, wo der Alltag seinen gewohnten Gang zwischen Pasta und Hausaufgaben nimmt? Dass die Insel weiterhin als malerischer Abenteuerspielplatz für italienische Buben taugt?
Abgesehen davon wäre es einmal an der Zeit, ein Moratorium für Bilder auszurufen, auf denen Flüchtlinge in diesen goldglänzenden Wärmefolien zu sehen sind, auch jetzt wieder in «Fuocoammare». Natürlich, das sieht immer wahnsinnig schön aus, ein bisschen surreal auch, und genau das ist das Problem. Diese Bilder erzählen schon lange nichts mehr, sie reduzieren die Flüchtlinge zu dekorativen Skulpturen.
Keine Menschenseele, nirgends
Schaurig schön sind auch die Tableaus in Nikolaus Geyrhalters menschenleerer Endzeitstudie «Homo sapiens» arrangiert. Der Österreicher hat die Welt nach verlassenen Orten abgesucht, und der unbewegte Bilderreigen, den er daraus arrangiert, wirkt wie eine Flaschenpost aus einer dystopischen Zukunft. Ein überwucherter Bahnhof, ein Getränkeautomat, verloren in einem Feld von Unkraut, ein verlotterter Vergnügungspark am Meer. Oder auch ein totes Kino, das noch ganz intakt scheint, bis wir sehen: Der Boden steht unter Wasser. Auf der Tonspur ein stetes Tröpfeln, der Sound des Verfalls. Einmal springt eine Kröte ins Bild, manchmal flattern Tauben auf. Aber keine Menschenseele, nirgends.
Das hat schon auch was von Endzeitpornografie: «Homo sapiens» ist ein vorzeitiges Requiem auf die menschliche Zivilisation. Wie ein Film von Roy Andersson, nachdem sich die Menschheit eigenhändig abgeschafft hat. Irgendwie tröstlich, dass wir danach mit trockenen Füssen aus dem Kino kommen.