Grundversorgung in Gefahr: Schönheitsoperationen statt gesunder Kinder
Seit Jahren treibt der Zürcher Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger (FDP) seine neoliberale Agenda voran. Mit Erfolg: Ende Oktober entschied der Kantonsrat, das Kantonsspital Winterthur zu privatisieren.
Die bürgerliche Mehrheit im Zürcher Kantonsrat hat Ende Oktober beschlossen, das Kantonsspital Winterthur (KSW) in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln und dadurch für private Investoren zugänglich zu machen. Vergeblich hatte die Ratslinke dafür gekämpft, dass die Grundversorgung in öffentlicher Hand bleibt. «Es ist kein Geheimnis, dass deutsche Spitalkonzerne grosses Interesse an Schweizer Spitälern haben», warnte SP-Kantonsrat Andreas Daurú in der Debatte. Sie wären nicht die einzigen Interessenten. Schon vor vier Jahren erklärte Antoine Hubert, Delegierter der Spitalkette Genolier, gegenüber der NZZ: «Die Grösse des Kantonsspitals Winterthur wäre für uns ideal.»
Auch die Integrierte Psychiatrie Winterthur (IPW) soll eine Aktiengesellschaft werden. Die entsprechende Schlussabstimmung findet in rund einem Monat im Kantonsrat statt. Angesichts der bürgerlichen Mehrheit ist davon auszugehen, dass auch diese Vorlage angenommen wird.
Negative Folgen für die Angestellten
Wird ein Spital in eine AG umgewandelt, wird eine wichtige Grundlage gelegt, dass die Aktien später an Dritte verkauft werden können. Von bürgerlicher Seite wird die Bedeutung der Privatisierung in Winterthur heruntergespielt. In einem Interview mit dem «Landboten» bezeichnete der zuständige FDP-Regierungsrat Thomas Heiniger die Privatisierung des KSW «als eine harmlose Umwandlung von einer öffentlich-rechtlichen Anstalt in eine AG». Gewerkschaften und Linke sehen das anders. Daurú sagt: «Der Entscheid ist wegweisend für den zukünftigen Erhalt der Grundversorgung, insbesondere für die Spitalversorgung.»
Das KSW war bisher eine selbstständige öffentlich-rechtliche Anstalt, die IPW war direkt der kantonalen Verwaltung angegliedert. Das vom Kantonsrat verabschiedete Gesetz sieht vor, dass der Kanton fünf Jahre Alleinaktionär beider Kliniken bleibt. Danach können 49 Prozent der Aktien ohne weiteres an private Investoren verkauft werden. Möchte der Kanton mehr als 49 Prozent der Aktien verkaufen, was Heinigers erklärtes Ziel ist, unterliegt dies dem fakultativen Referendum. Gegen den Willen des Regierungsrats konnte durchgesetzt werden, dass der Kantonsrat wenigstens bei der Wahl des KSW-Verwaltungsrats das letzte Wort hat. Zudem besteht ein Vorverkaufsrecht der Aktien für die Stadt Winterthur und umliegende Gemeinden. Angesichts der angespannten finanziellen Lage Winterthurs und der Gemeinden ist jedoch nicht anzunehmen, dass diese davon Gebrauch machen werden.
Die Angestellten könnten als Erste die negativen Folgen der Privatisierung zu spüren bekommen. Falls die Kliniken privatisiert werden, fallen sie nicht mehr unter das kantonale Personalgesetz. «Das kantonale Personalgesetz funktioniert wie eine Art Gesamtarbeitsvertrag und ist ein wichtiger Schutz für das Personal», sagt Roland Brunner, Gewerkschaftssekretär des VPOD. Schaffen es die Gewerkschaften nicht, einen Gesamtarbeitsvertrag abzuschliessen, so untersteht das Personal nur noch dem Obligationenrecht, was eine deutliche Verschlechterung darstellt.
Regierungsrat Heiniger, der die Privatisierung des KSW seit Jahren forciert, bringt zwei Gründe für eine Umwandlung in eine AG: Erstens verspricht er sich von einer Aktiengesellschaft mehr Flexibilität in baulichen Fragen. Zweitens sieht er den Kanton in einem Rollenkonflikt. Der Kanton vergibt den Leistungsauftrag für Spitäler, auf der anderen Seite besitzt er selbst Spitäler. Heinigers erklärtes Ziel ist es, dass der Kanton in naher Zukunft abgesehen vom Unispital keine Spitäler mehr betreibt. Für Kantonsrat Daurú sind Heinigers Argumente nicht nachvollziehbar. Das KSW sei auch als öffentlich-rechtliche Anstalt, gerade was bauliche Fragen anbelange, flexibel genug. «Bei der IPW, die noch an die Kantonsverwaltung angegliedert ist, hätte man allenfalls über eine Umwandlung in eine öffentlich-rechtliche Trägerschaft diskutieren können», sagt Daurú.
Das Problem des Rollenkonflikts ist hausgemacht. Seit Jahren wird das schweizerische Gesundheitssystem, insbesondere das Spitalwesen, immer stärker auf Wettbewerb getrimmt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die neue Spitalfinanzierung, die seit 2012 in Kraft ist. Private und öffentliche Spitäler wurden dadurch gleichgestellt. Seit 2012 legen die Kantone ihren Bedarf an Spitalleistungen fest. Anschliessend werden sogenannte Spitallisten erlassen. Private und öffentliche Spitäler buhlen dann um Plätze auf dieser Liste. Erfüllen sie die Ansprüche, werden sie in die Spitalliste aufgenommen. Ist ein privates Spital auf der Liste, werden dessen Leistungen wie die eines öffentlichen Spitals von der Grundversicherung übernommen. Im Gegenzug muss es auch allgemein versicherte PatientInnen aufnehmen.
Die Privatspitäler befürchten Nachteile bei der Vergabe von Listenplätzen, weil der Kanton selbst Spitäler betreibt. Indem er diesen Rollenkonflikt hervorhebt, vertritt Heiniger deren Sicht. Daurú widerspricht: «Es ist richtig, dass der Kanton, der laut Verfassung die Verantwortung für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung innehat, auch das Angebot regelt und die Grundversorgung anbietet.»
Gerade in einer Zeit der Negativzinsen sucht das Kapital nach rentablen Anlagemöglichkeiten. Die Credit Suisse publizierte im Jahr 2013 eine Studie zum Schweizer Spitalmarkt. Diese sieht das Schweizer Gesundheitswesen «als ausserordentlichen Wachstumssektor mit zunehmender Bedeutung», denn «die Nachfrage nach Gesundheit kennt praktisch keine Obergrenze». Das KSW verzeichnete im Jahr 2015 einen Gewinn von 16,4 Millionen – für Investoren eine lukrative Anlagemöglichkeit.
Was nicht rentiert, wird abgebaut
Um aufzuzeigen, was passieren kann, wenn die Gesundheitsversorgung zu grossen Teilen in privater Hand ist, verweist Daurú auf Deutschland: «Nicht lukrative, aber für die Grundversorgung wichtige medizinische Angebote werden abgebaut, es wird immer mehr auf gewinnbringende Patientinnen und Patienten gesetzt.» Ein privatisiertes Spital kann nicht gezwungen werden, den kantonalen Leistungsauftrag zu übernehmen. Wird dieser nicht mehr erfüllt, kann man es lediglich dadurch sanktionieren, dass man es von der Spitalliste streicht. Wird das neue Gesetz angenommen, ist es gut möglich, dass eines Tages die Mehrheit der Aktien des KSW in privater Hand sind. Würde dann die Mehrheit der Aktionäre entscheiden, die nicht lukrative Kinder- und Jugendabteilung abzubauen und dafür das Angebot an Schönheitsoperationen auszubauen, könnte man sie nicht daran hindern. Für die regionale Gesundheitsversorgung wäre dies fatal.
Hart treffen könnte es auch die Integrierte Psychiatrie Winterthur. Sie arbeitet unter anderem intensiv mit Suchtkranken und in der Alterspsychiatrie. Beides sind wichtige, aber nicht lukrative Bereiche. «Im ganzen sozialpsychiatrischen Bereich lässt sich überhaupt kein Geld machen», sagt der erfahrene Psychiatriepfleger Daurú. Auch hier sind ähnliche Entwicklungen vorstellbar. Falls sich das IPW irgendwann in der Hand von privaten AktionärInnen befindet, könnte die Klinik ihr Angebot womöglich grundlegend umbauen. Möglich wäre, etwa die Arbeit mit Suchtkranken abzubauen zugunsten von Burn-out-Therapien für ManagerInnen.
Vorerst sind das Horrorszenarien der Zukunft. Doch sobald sich die Aktien in den Händen von Privaten befinden, können sie schnell zur Realität werden. Noch steht die Privatisierung nicht fest. Die Ratslinke hat bei der KSW-Vorlage bereits das Referendum ergriffen. Bei der IPW-Vorlage wird sie dies ebenfalls tun. Vermutlich kommt es nächsten Frühling zu einer Volksabstimmung über beide Vorlagen.